Die Berücksichtigung nicht staatlicher Verfolgung queerer Personen im Herkunftsstaat – Entwicklungen in der deutschen und europäischen Rechtsprechung

B. und C. v. Schweiz (Nr. 889/19 und 43987/16 vom 17.11.2020, NLMR 2020, 429)

Die zwei Beschwerdeführer, ein gambischer und ein schweizer Staatsangehöriger, lebten in einer eingetragenen Partnerschaft. Der gambische Staatsangehörige hatte mehrmals versucht, Asyl in der Schweiz zu erlangen, scheiterte jedoch immer. Mehrmals wurde der Antrag abgelehnt, da an der Glaubwürdigkeit der vorgebrachten früheren und drohenden Verfolgungshandlungen aufgrund seiner sexuellen Orientierung gezweifelt wurde. Begründet wurde die Ablehnung damit, dass sowohl die gambischen Behörden als auch die Familie im Herkunftsland keine Kenntnis von seiner Sexualität hätten, sodass kein Verfolgungsgrund gegeben sei. Damit sei das konkrete Misshandlungsrisiko bei Rückkehr nicht bewiesen. 

Parallel dazu wurde versucht, ein Aufenthaltstitel über die eingetragenen Lebenspartnerschaft zu erlangen. Dieser Antrag wurde jedoch ebenso abgelehnt und die sofortige Ausreise angeordnet. 

Das oberste Verwaltungsgericht der Schweiz entschied final, dass die Versagung des Aufenthaltstitels rechtmäßig sei. Dies wurde vor allem damit begründet, dass sich die Situation für queere Personen in Gambia verbessert habe, da die Strafgesetze gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen laut des neuen Präsidenten jedoch nicht mehr angewandt würden. Somit mangele es an hinreichenden Beweisen einer Verfolgung bei Rückkehr.

Die Beschwerdeführer machten vor dem EGMR wegen der Abschiebungsanordnung nach Gambia eine Verletzung von Art. 3 EMRK, Verbot von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung, geltend, da in Gambia aufgrund der sexuellen Orientierung Verfolgung drohe. Der EGMR entschied, dass aufgrund des unzureichenden staatlichen Schutzes in Gambia die Entscheidung der Schweizer Behörde eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellt. 

Bedeutung für die Berücksichtigung von Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure

Der EGMR knüpfte an seiner bisherigen Rechtsprechung zur Risikoermittlung im Herkunftsstaat an, wonach zunächst die generelle Situation betrachtet werden müsse. Dabei komme es nicht allein auf die strafrechtliche Rechtslage und deren Durchsetzung, sondern auf die tatsächlichen Gegebenheiten und das gesellschaftliche Klima vor Ort an. Diese Seite in der Abwägung zu berücksichtigen, wäre insofern von Bedeutung gewesen, als dass unmenschliche und erniedrigende Behandlung ebenso von nichtstaatlichen Akteuren, sei es innerhalb oder außerhalb der eigenen Familie, ausgehen könne (NLMR 2020, 439, Rn. 61).

Der EGMR befand, dass bei der Risikoermittlung das Gefahrpotential durch nichtstaatliche Akteure von den Schweizer Behörden nur teilweise eingeschätzt wurde. Es wurde lediglich berücksichtigt, ob von der Familie des Beschwerdeführers eine Gefahr ausgehe, während andere nichtstaatliche Akteure, sowohl in seiner spezifischen Umgebung, sowie auch in der breiteren gambischen Gesellschaft, unberücksichtigt blieben. 

Die Prüfung des Schutzes durch staatliche Behörden müsse von Amts wegen erfolgen. Der bloße Verweis darauf, dass die relevanten nichtstaatlichen Akteure von der sexuellen Orientierung keine Kenntnis hätten, ersetze eine solche Bewertung jedoch nicht. Insbesondere könne nicht erwartet werden, dass die Sexualität im Herkunftsland verheimlicht werde (NLMR 2020, 439, Rn. 57).

Der Fall legt erstmals die Schwelle für Verfolgungshandlungen aufgrund sexueller Orientierung fest, die es braucht, um eine Verletzung von Art. 3 EMRK festzustellen. Gleichgeschlechtliche Akte per se unter Strafe zu stellen, genüge nicht, es bedürfe einer umfassenden Evaluation der tatsächlichen Verhältnisse im jeweiligen Land. Dass gleichgeschlechtliche Beziehungen zudem noch formal kriminalisiert werden, sei ein Indiz dafür, dass es an staatlichem Schutz vor nichtstaatlicher Verfolgung mangele (NLMR 2020, 439, Rn. 57). 

Selbst wenn die Behörden bei Verstößen gegen bestehende Gesetze in der Praxis nicht tätig werden, könne allein die Existenz der Strafnormen zu einem queerfeindlichen Klima beitragen. 

Bedeutung des Verfolgungsgrundes der sexuellen Orientierung

Der Fall stellt darüber hinaus insofern einen Meilenstein dar, als dass das erste Mal die Gefahr der Misshandlung aufgrund sexueller Orientierung als Art. 3 EMRK Verletzung gewertet wurde, wenn es an der angemessenen Risikobewertung durch die innerstaatlichen Behörden mangele. Bis dahin waren ähnlich gelagerte Fälle entweder als unzulässig verworfen oder gestrichen worden. 

Ein wichtiges Statement, dass der Gerichtshof in dieser Entscheidung tätigt, ist, dass sexuelle Orientierung eine fundamentale Eigenschaft einer Person bilden und von niemandem gefordert werden könne, diese zu verhüllen (NLMR 2020, 439, Rn. 57). Die Unkenntnis im Herkunftsstaat ist insofern kein überzeugendes Argument, da gerade im Zuge der Abschiebung eine solche Informationen bekannt werden könnte. Die Kenntnis solcher Tatsachen liegt oftmals außerhalb des Einflussbereichs der betroffenen Person, was der EGMR unter Bezugnahme zu den UNHCR Guidelines on International Protection Nr. 9 feststellte. Daher wäre die Verheimlichung ohnehin ein untaugliches Mittel, um eine Verfolgung zu verhindern.

Deutschland

Die deutsche Rechtslage zur Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure wurde erst durch die Einführung von § 60 Abs 1 S. 4 AufenthG a.F., nun § 3c AsylG, mit der Auffassung der überwiegenden Zahl der Staaten in der Europäischen Union konsolidiert (BT-Drs. 15/420, 91). Zuvor wurde noch gefordert, dass Zurechenbarkeit zwischen der nichtstaatlichen Verfolgung und dem staatlichem Schutzversagen bestehen müsse (Hruschka, in: Huber/Mantel (Hrsg.), AufenthG, 3. Aufl. 2021, § 3c AsylG, Rn. 4).

Nach heutiger Rechtslage wird die Variante der nichtstaatlichen Verfolgungsakteure weit ausgelegt; es bedarf weder einer Mehrzahl von Personen noch einer strukturellen-organisatorischen Überlegenheit. Es kann theoretisch eine Gefährdung durch eine nichtstaatliche Einzelperson genügen. Daher haben die Differenzierungen der Verfolgungsakteure in § 3c AsylG zwischen staatlichen, quasi-staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren auf tatbestandlicher Ebene ihre Relevanz verloren; lediglich bei der Frage der Schutzmöglichkeit sind Unterscheidungen relevant, (Hruschka, in: Huber/Mantel (Hrsg.), AufenthG, 3. Aufl. 2021, § 3c AsylG, Rn. 6-8).

Sofern die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure festgestellt wurde, muss demnach dargelegt werden, dass der Staat weder schutzfähig noch schutzbereit ist. 

Dabei ist nach h.M. eine objektive Beweislast der antragsstellenden Person abzulehnen, da bei non-liquet anderweitig eine Ablehnung ergehen müsse, obwohl bereits eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure statuiert wurde (Möller/Stiegeler, in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 3c AsylG, Rn. 11; Senge, in: Erbs/Kohlhaas (Hrsg.), Strafrechtliche Nebengesetze, 239. EL Dezember 2021, § 3c AsylG, Rn. 3). 

Stattdessen genügt die Darlegung von Tatsachen, aus denen abgeleitet werden kann, dass es an Schutzfähigkeit und -bereitschaft fehlt; das BAMF hat darzulegen, dass ein tatsächlicher Schutz besteht (Erbs/Kohlhaas (Hrsg.), Strafrechtliche Nebengesetze, 239. EL Dezember 2021, § 3c AsylG, Rn. 3; Möller/Stiegeler, in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 3c AsylG, Rn. 12).

Anders geht der EGMR vor, der die beschwerdeführende Person die Beweislast der fehlenden Schutzwilligkeit und -fähigkeit auferlegt (m.w.N. Sinner, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, 3. Aufl. 2022, Art. 3 EMRK Rn. 24a). 

Die EGMR Entscheidung von B. und S. v. Schweiz konkretisiert nun die Anforderungen an die Prüfung bei nichtstaatlichen Verfolgungsakteuren, da klargestellt wird, dass diese auch berücksichtigt werden müssen (wie hier durch das queerfeindliche gesellschaftliche Klima), wenn von staatlicher Seite keine aktive Verfolgung droht (wie der Nichtdurchsetzung der Strafnormen).

Die Entscheidung hat bereits in der deutschen Rechtsprechung von homosexuellen Personen aus Gambia Eingang gefunden. 

Das VG Freiburg entschied, dass die Betrachtung von staatlichen und nichtstaatlichen Verfolgungsmaßnahmen im Falle eines homosexuellen Beschwerdeführers im Herkunftsland Gambia, vor denen der Staat keinen hinreichenden Schutz biete, ausreiche, um eine Verfolgung i.S.d. § 3c Nr. 3 AsylG darzustellen (Urteil vom 09.12.2020 – A 15 K 4788/17). Das Gericht stellte fest, dass, auch wenn die existenten Strafvorschriften seit 2017 nicht mehr durchgesetzt würden, so haben die jahrelange Verschärfung dieser Normen und dessen vorangegangene Verfolgung zu einem aufgeheizten Klima gegen queere Personen innerhalb der Bevölkerung geführt, welches auch ohne staatliche Aktivitäten weiter bestehe (Rn. 43). Die mangelnde Schutzwillig- und -fähigkeit i.S.d. § 3d Abs. 2 AsylG werde dadurch deutlich, dass die Strafnormen immer noch in Kraft seien (Rn. 55 ff.).  

Auch das VG Karlsruhe (Urteil vom 12.05.2021 – A 10 K 561/19) entschied im Jahr 2021, dass in Gambia zwar wahrscheinlich keine staatliche Strafverfolgung oder Bestrafung aufgrund sexueller Orientierung drohe, aber die diskriminierende Haltung und das Gefahrenpotential gegenüber homosexuellen Personen in der gambischen Gesellschaft ausreiche, um eine relevante Verfolgung gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG darzustellen. Zudem fehle es an einem wirksamen staatlichen Schutz gemäß § 3c Nr. 3 AylG, durch den gambischen Staat vor dieser Verfolgung durch nicht-staatliche Akteure, 3d Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 AsylG. 

Das neueste Urteil hierzu erging vom VG Berlin (Urteil vom 19.08.2021 – VG 31 K 687.17 A) , dass insofern von den beiden anderen Urteilen abwich, als dass den dort klagenden homosexuellen gambischen Staatsangehörigen im Herkunftsland (wieder) staatliche Verfolgung drohe (Rn. 22, 28 ff.), sodass auf die Lage in der Bevölkerung und somit die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure nicht eingegangen werden musste (Rn. 32).

EuGH

In einer vergleichbaren Entscheidung des EuGH (Rs. C-199/12, C-200/12 und C-201/12 vom 7.11.2013, NVwZ 2014, 132) zur Frage der Verfolgung aufgrund sexueller Orientierung aus dem Jahr 2013, ging der Gerichtshof aus Luxemburg noch nicht so weit, wie es der EGMR in der hier besprochenen Entscheidung aus dem Jahr 2020. 

Zwar hat der EuGH, ebenso wie der EGMR, statuiert, dass die Kriminalisierung homosexueller Beziehungen und Handlungen allein für eine Verfolgung nicht genüge; es müsse ermittelt werden, ob und inwiefern eine tatsächliche (Freiheits-)Strafe drohe, damit die Schwelle überschritten werde (NVwZ 2014, 132, Rn. 55, 56). 

Dabei ging der EuGH jedoch nicht auf nichtstaatliche Akteure, das gesellschaftliche Klima oder andere potenzielle Gefahren ein. 

Gleichlautend wurde die Frage zur Verheimlichung der sexuellen Orientierung beantwortet, wonach diese nicht erwartet werden könne, um einer Verfolgung aus dem Weg zu gehen (NVwZ 2014, 132, Rn. 71). 

Gerade in Verbindung mit dieser Aussage zur Verheimlichung wäre der Bezug zum alltäglichen Leben im sozialen Gefüge des Herkunftslandes, abseits von der (drohenden) Begegnung mit Behörden, relevant gewesen. 

Fazit 

Die Entscheidung des EGMR stärkt den Schutz vor Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, indem das Prüfungsprogramm des Art. 3 EMRK beim Verfolgungsgrund der sexuellen Orientierung explizit um die Pflicht zur Berücksichtigung nichtstaatlicher Akteure erweitert wird.

Die Übertragung in die deutsche Rechtsprechung in den hier dargestellten Fällen ist bereits gelungen. Ob und inwiefern auch der EuGH hier nachzieht, wird sich in der Zukunft zeigen.

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