Auswirkungen des möglichen Beitritts zur EMRK auf das EU-Migrationsrecht

Derzeitiger Einfluss der EMRK auf die EU

Während die Europäische Union (EU) das nationale Ausländer- und Asylrecht maßgeblich beeinflusst (siehe verschiedene Richtlinien und Verordnungen, allen voran die Dublin-III-VO), ist der Europarat in seinem Einfluss nicht derart unmittelbar in nationalem Recht und Rechtsprechung bemerkbar. Die beiden Systeme sind grundsätzlich unabhängig, so wie auch die jeweiligen Gerichte nebeneinander stehen und eigene Entscheidungen treffen. Dennoch gibt es bereits zum jetzigen Zeitpunkt eine gewisse gegenseitige Einflussnahme, insbesondere, da sich alle EU-Mitgliedsstaaten auch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verpflichtet haben, über die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entscheidet.

Zum einen sieht Art. 6 Abs. 3 EUV vor, dass die Rechte und Freiheiten der EMRK als allgemeine Grundsätze auch Teil des Unionsrechts sind. Zudem ist in Art. 52 Abs. 3 EU-Grundrechtecharta (GRC) die EMRK als Rechtserkenntnisquelle zur Auslegung der EU-Grundrechte aufgeführt.

Zwar sind laut EGMR die EU-Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung von EU-Recht, sofern sie über einen eigenen Spielraum verfügen, an die EMRK gebunden (EGMR, Matthews v. Vereinigtes Königreich, Nr. 24833/94, 1999). Dieser Spielraum sei in Bezug auf das Verfahren nach Dublin-III gegeben, da den Staaten ein Selbsteintrittsrecht vorbehalten sei (EGMR (GK), M.S.S. v. Belgien, Nr. 30696/09, 201, EuGRZ 2011, 243; Breuer, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, 3. Aufl. 2022, Rn. 50).

All das genügt jedoch aktuell nicht, um beispielsweise EU-Akte vor dem EGMR unmittelbar geltend machen zu können. Sofern die EU einen gleichwertigen Grundrechtsschutz bietet, verzichtet der EGMR auf die Prüfung mitgliedstaatlichen Handelns in Durchführung des Unionsrechts zugunsten der Funktionsfähigkeit der EU (EGMR (GK), Bosphorus v. Irland, Nr. 45036/98, 2005; Neier, in: EuR, 2022, 213). Diese Vermutung der Gleichwertigkeit ist in jüngster Zeit ins Wanken geraten. Der EGMR machte von dieser Vermutung in der Vergangenheit jedoch nicht durchweg Gebrauch, sondern war auch gewillt, sich einer genaueren Prüfung anzunehmen, selbst in einem Bereich, der originär dem EuGH zugewiesen ist (siehe z.B. EGMR, Michaud v. Frankreich, Nr. 12323/11, 2012). Ress sieht in der Entscheidung des EGMR, Bivolaru u.a. v. Frankreich aus 2021 (Nr. 40324/16, 12623/17, BeckRS 2021, 5322) die Möglichkeit einer Abkehr von Gleichwertigkeitsvermutung des Rechtsschutzes von EU-Recht und EMRK (Ress, in: EuZW 2021, 711).

Aufgrund dieser komplexen Sachlage lohnt sich ein Blick auf das mögliche Zukunftsszenario, dass seit mehreren Jahren angekündigte Beitritt der EU zur EMRK vollzogen wird.

Stand des Beitritts

Zum jetzigen Zeitpunkt ist die EU der EMRK nicht beigetreten. Dies ist seit 2004 grundsätzlich möglich, indem Art. 59 Abs. 2 der EMRK geändert wurde. Im Jahr 2009 zog die EU dann nach und fügte in Art. 6 Abs. 2 EUV die Beitrittsmöglichkeit ein. Daraufhin wurde per Beschluss die Erfüllung dieses Ziels in Auftrag gegeben, dem sich die Kommission annahm und sich nach Verhandlungen über einen Beitrittsentwurf mit den (damals noch 47) Mitgliedsstaaten einigte. Dieser Plan scheiterte an der durch den EuGH festgestellten Unvereinbarkeit mit EU-Recht (EuGH, Gutachten 2/13 vom 18.12.2014).

Teilweise wird wegen des EuGH-Gutachtens aus 2014 nicht mehr mit einem Beitritt gerechnet (Hofmann, in: Kluth/Heusch (Hrsg.) in: BeckOK AuslR, 35. Ed., Art. 8 EMRK, Rn. 21.1).

Das Projekt ruhte, bis 2019 die Kommission der Generalsekretärin des Europarats mitteilte, dass sie zu einer Wiederaufnahme der Verhandlungen über den Beitritt bereit sei. Das Ministerkomittee verabschiedete daraufhin ein Verhandlungsmandat. Die Kommission nahm mit den Mitgliedsstaaten des Europarates vom 29.09. bis 02.10.2020 in Straßburg die formellen Verhandlungen über den Beitritt der EU zur EMRK wieder auf.

Allgemeine Konsequenzen des Beitritts

Die wichtigste Neuerung, die der Beitritt der EU herbeiführen würde, wäre die Möglichkeit, Beschwerdeverfahren gegen die EU vor dem EGMR durchzuführen. Damit könnten erstens die EU-Rechtsakte einer weiteren unabhängigen Prüfungsinstanz unterzogen werden. Zweitens könnte somit Einheitlichkeit in der Auslegung von den grds. als identisch auszulegenden Grund- und Menschenrechten in EMRK und EU-Grundrechtecharta (Art. 52 Abs. 3 GRC) ermöglicht werden. Derzeit besteht die Gefahr von widersprüchlichen Ergebnissen der beiden Rechtsprechungsorgane. Die Vereinheitlichung würde zudem zu mehr Rechtssicherheit führen. Ein weiterer Effekt könnte sein, dass die EU zu mehr Legitimation gelangen würden, da die Möglichkeit zur individuellen Beschwerde vor dem EGMR gegeben wäre. Die Durchsetzung von Entscheidungen des EGMR durch die EU wäre zudem ebenfalls gewährleistet.

Normenhierarchisch wird davon ausgegangen, dass die EMRK ­sich als ein völkerrechtlicher Vertrag in das Unionsrecht auf einer Stufe zwischen Primär- und Sekundärrecht ansiedeln würde, Art. 216 Abs. 2 AEUV. Für die Mitgliedsstaaten der EU hätte das zur Folge, dass bei der Anwendung von EU-Recht die EMRK Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht genießen würde (Hofmann, in: Kluth/Heusch (Hrsg.), BeckOK AusländerR, 35. Ed., Art. 8 EMRK, Rn. 12.1). Somit würde es auch hier zu einer Vereinheitlichung kommen, da die verschiedenen EMRK-Mitgliedsstaaten die Geltung und Anwendung der Konvention auf nationaler Ebene derzeit individuell regeln. Konkret würde mit erheblichen Änderungen im Verhältnis zwischen EGMR und BVerfG zu rechnen sein (Hofmann, in: Kluth/Heusch (Hrsg.), BeckOK AusländerR, 35. Ed., Art. 8 EMRK, Rn. 12.1).

Konsequenzen in Bezug auf das Migrationsrecht

Betrachtet man nun speziell die Flüchtlingspolitik und die damit zusammenhängenden Rechtsakte, so stellt sich die Frage, erstens, wie diese Auswirkungen eines Beitritts ausfallen könnten und zweitens, wie diese Auswirkungen zu bewerten sind.

Offensichtlich ist, dass sich die Maßnahmen auf dem Gebiet von Asylpolitik und -praxis konkret an der EMRK messen lassen müssten. Betroffenen stünde dann auch hier der Weg nach Straßburg offen.

Zwar ist gemäß der ständigen Rechtsprechung des EGMR der EMRK kein Recht auf politisches Asyl zu entnehmen (EGMR (GK), Saadi v. Italien, Nr. 37201/06, 2008, NVwZ 2008, 1330). Nichtsdestoweniger ist insbesondere mittels Art. 3 EMRK (Verbot der Folter und erniedrigender Behandlung) ein gewisser Maßstab für den Umgang mit Geflüchteten und Schutz vor Abschiebungen vom EGMR entwickelt worden (Breuer, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, 3. Aufl., 2022, Rn. 49 ff.).

Daher sollte die EU auch schon unmittelbar und präventiv ihren Umgang mit Asylbewerber*innen und Geflüchteten ändern. Konkret könnte von einer proaktiveren Rolle ausgegangen werden. Dazu könnten insbesondere Maßnahmen gehören, die die Gefahren der Diskriminierung, Missbrauch und Menschenrechtsverletzungen minimieren.

Insbesondere würde das nun über Art. 52 Abs. 3 GRC als Auslegungsmaßstab für die EU-Grundrechte heranzuziehende Refoulement-Verbot aus Art. 3 EMRK nach einem Beitritt unmittelbar gelten und binden (Thym, in: Kluth/Heusch (Hrsg.), BeckOK AuslR, Art. 78 AEUV, 35. Ed., Rn. 10). Laut Thym kämen mit dem Refoulement-Verbot bereits vorgelagerte Maßnahmen wie die Grenzüberwachung in Konflikt. Im Speziellen ist hier das im Asylpakt 2020 vorgeschlagene „Screening“ als Problempunkt zu nennen.

Der Asylpakt 2020 (COM(2020) 611 final vom 23.09.2020) wurde als „Neuanfang der Migrationspolitik“ betitelt und soll ein Gesamtkonzept für das Migrationsmanagement beinhalten (COM(2020) 611 final, S. 1). In seiner Analyse hat Häberle bereits  Reibungspunkte des „Screenings“ mit der EMRK bzw. EGMR-Rechtsprechung festgestellt (Häberle, in: EuR, 2022, 755).

Zweck dieses „Screenings“ an den EU-Außengrenzen ist eine Vorsortierung der Bewerber*innen vorzunehmen (COM(2020) 611 final, S. 6 ff.; siehe zum dazu die Stellungnahme von Pro Asyl vom 23.03.2023, online, https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2023-03-23_Stellungnahme-SV-Anhoerung-GEAS_Wiebke-Judith-PRO-ASYL.pdf). Bei Personen mit geringeren Erfolgsaussichten soll so bereits ein Verfahren an den Grenzen stattfinden, sodass die Rückführung vereinfacht werde.

Der EGMR hat bereits entschieden, dass das Handeln der Beamten an der Grenze Ausübung hoheitlicher Gewalt darstellt (in dem betreffenden Fall die Überstellung an libysche Behörden, EGMR (GK), Hirsi Jamaa et. al. v. Italien, Nr. 27765/09, 2012, NVwZ 2012, 809). Daher sei auch die Feststellung der physischen Einreise eine solche dem Staat zurechenbare Handlung (Häberle, in: EuR, 2022, 755, 759). Folglich müsse auch diese Handlungen in Einklang der EMRK, insb. Refoulement-Verbot, Art. 3 EMRK und Verbot der Kollektivausweisung, Art. 4 Zusatzprotokoll 4, stehen.

Sollte der EGMR über eine solche Reform zu entscheiden haben, würde laut Häberle (Häberle, in: EuR 2022, 755, 760) von einem folgendermaßen lautenden Tenor auszugehen sein:

  1. dass die Ausübung der Hoheitsgewalt an Land immer an der Grenze beginne, unabhängig davon, wo der betreffende Staat Sperranlagen errichtet haben mag,
  2. dass das Verbot erniedrigender Behandlung (Art. 3 EMRK) und der (ungerechtfertigten) Freiheitsentziehung (Art. 5 Abs. 1 EMRK) auch bei Geflüchteten im Flughafen-Transitbereich gelte, sowie ebenso in Aufnahmezentren,
  3. dass vor jeder Abschiebung bzgl. Art. 3 EMRK auch hinreichend zu prüfen sei, ob im Aufnahmestaat das Asylsystem zugänglich und zuverlässig ist.

Dabei wurde sich von Häberle an den Entscheidungen N.D. und N.T. v. Spanien (NVwZ 2020, 697), Z.A. et. al. v. Russland (NVwZ 2020, 777) und Ilias und Ahmd v. Ungarn (NVwZ 2020, 938) orientiert (alle Entscheidungen der großen Kammer des EGMR).

Insbesondere in N.D. und N.T. v Spanien wurde vom EGMR konkretisiert, dass das Handeln der nationalen Grenzpolizei auch außerhalb des nationalen Territoriums eine Ausübung der Hoheitsgewalt sei, da der besondere Zusammenhang mit der Migration „keinen rechtsfreien Raum“ rechtfertigen könne (N.D. und N.T. v. Spanien, NVwZ 2020, 697, Rn. 110, Anm. v. Kluth, in: ZAR, 2020, 291; siehe auch Kochenov/Ganty, in: Jean Monnet Working Paper, 2022, 2, online).

Weitere Vorgaben für eine Reform des EU-Asylystems sei laut Kluth aus dem Urteil dahingehend herauszulesen, als dass die Ausgestaltung der Verfahren an „Hotspots“ einer gründlichen Einzelfallprüfung bedürfen. Zudem seien einerseits die Mitwirkungsbereitschaft der Geflüchteten, andererseits aber auch deren Bedürfnisse zur berücksichtigen (Kluth, in: ZAR, 2020, 291, 294).

Fazit

Bereits ohne einen Beitritt der EU zur EMRK orientiert sich der EuGH an den Vorgaben des EGMR (Breuer, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.) EMRK, 3. Aufl. 2022, Rn. 53); bpsw. bei der Auslegung der einschlägigen Richtlinien im Lichte von Art. 13 EMRK, EuGH, Abdida, Rs. C-562/13, 18. 12. 2014, Rn. 53).

Der Beitritt hätte dennoch weitgehende Auswirkungen auf das Migrationsrecht der EU, da die EU weitergehend sicherstellen müsste, dass ihr Handeln –beispielsweise durch ihre Grenzbeamten – mit den in der Konvention verankerten Grundrechten und -freiheiten in Einklang stehen.

Zwar ist der EGMR jetzt bereits aktiv in seiner Asylrechtsprechung, insbesondere im letzten Jahr zu den Zurückweisungen an den EU-Außengrenzen (genauer dazu Schmalz, in: ZAR 2021, 360).

Es hätte jedoch eine neue Dimension, da Entscheidungen dieser Art nicht (nur) die Einzelstaaten treffen würden, sondern konkret die EU als Beschwerdegegnerin an den Rechten und Freiheiten der Konvention in ihrer Asylpraxis gemessen werden würde.

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