„DDR-Kinder“ aus Namibia – 30 Jahre nach dem Mauerfall

Vor wenigen Monaten feierte Deutschland mit seinen Partnerländern das 30-jährige Jubiläum des Mauerfalls. Am Abend des 9. November 1989 führte eine denkwürdige Pressekonferenz von Günter Schabowski zur Passierbarkeit der Grenze zwischen der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und der Bundesrepublik Deutschland. Tausende Menschen strömten an diesem Abend und in den darauffolgenden Tagen zu den Grenzstationen und überquerten die Grenze – für viele zum ersten Mal. Auf diesen Ereignissen soll aber nicht der Fokus des folgenden Beitrags liegen. Vielmehr sollen sie zum Anlass genommen werden, auf ein Problem aufmerksam zu machen: „DDR-Kinder“ aus Namibia. Die Berliner Zeitung wählte für eine Geschichte über sie den Titel „Die Verlierer des Mauerfalls“.

I. Wie kommt man auf ein solches Thema?

Neben den geschichtlichen Ereignissen erreichte im Frühjahr 2019 die Law Clinic PRO BONO Mannheim eine sehr ungewöhnliche Anfrage. Eine junge Frau aus Windhoek, der Hauptstadt Namibias, stellte sich vor und bat um unseren Rat und rechtliche Einschätzung. Sie schilderte uns ihre Geschichte. Von ihrer Situation hatte noch niemand gehört und so begann die Recherche. Man stieß zuerst auf ein Buch von Constance Kenna: Die DDRKinder von Namibia – Heimkehrer in ein fremdes Land. Neben der tatsächlichen Geschichte dieser Kinder, heute erwachsene Menschen, beschäftigte uns vor allem die rechtliche Seite. Gibt es eine Möglichkeit[1] [2]  für eine Rückkehr nach Deutschland? Der folgende Beitrag versucht die Situation der Betroffenen darzustellen (unten II.) und eine rechtliche Einordnung (unten III.) vorzunehmen. Anschließend wird ein Resümee gezogen (unten IV.).

II. Was meint „DDR-Kinder“ aus Namibia?

Ausgangspunkt für die Entwicklungen waren im Jahr 1979 die Unabhängigkeitskämpfe der noch heute bestehenden und regierenden SWAPO Party of Namibia gegen die Fremdverwaltung durch Südafrika. Wie bei vielen Konflikten kam es auch hier zu Flucht und Vertreibung.[3]  Die marxistische SWAPO war auf Hilfe aus sozialistischen und kommunistischen Ländern angewiesen. Im Laufe des Konflikts wurden rund 400 Kinder aus Flüchtlingslagern in die DDR gebracht. Die Lektüre von Geschichten einzelner Betroffener, wie zum Beispiel von Paul Shilongo und etwas positiver von Nangula Costa, kann nur empfohlen werden.

Wie so oft in Situationen, in denen vielseitige Interessen betroffen sind, kommen die Interessen der Kinder nicht an erster Stelle. Nach ihrer Ankunft auf Schloss Bellin in Mecklenburg-Vorpommern lernten die Kinder zwar die deutsche Sprache, sie unterlagen aber auch einer sozialistischen Erziehung und bekamen deren Werte vermittelt. Ziel ist es gewesen, die namibischen Kinder als zukünftige neue Führungselite auszubilden, die nach der Unabhängigkeit Verantwortung übernehmen sollte (vgl. MDR Zeitreise). Dass eine solche ideologische Ausbildung bei Kindern falsche Erwartungen weckt, war vorhersehbar. Der Traum einer auf Disziplin und militärisch angelegten Ausbildung platze und die Aussage zukünftig zur Elite des Landes zu gehören, hing „in der Luft, wie ein Versprechen, das nie eingelöst wurde“ (Zitat aus Zeit-Online v. 4.11.2010). Hinzu kam ein Spagat zwischen deutscher und namibischer Kultur. Diese Eindrücke schilderte auch unsere Mandantin. Sie hat bis heute Probleme, ihre Identität zu finden und fühlt sich näher zu Deutschland hingezogen als zu Namibia. Darauf baut auch ihr Wunsch, nach Deutschland zurückzukehren.

Mit diesen Hintergedanken hatte man die Kinder in die DDR gebracht und es war auch klar, wann der Aufenthalt enden sollte: mit der Unabhängigkeit Namibias. Im Tumult der sich überstürzenden Ereignisse in der DDR beschloss man die Ausreise der namibischen Kinder (zuständig war das Ministerium der Volksbildung [vgl. Zeit-Online v. 4.11.2010], aber die Ursachen der Rückführung sind ungeklärt: fehlende Geldmittel oder Verantwortlichkeit der SWAPO). Eine Rückführung fand im Sommer 1990 statt. Wie es vielen dann ergangen ist, erzählen die Geschichten der Einzelschicksale: „Da habe ich mich eigentlich wie weggeworfen gefühlt, denn diese Grundsicherheit, die man immer hatte, die fiel plötzlich weg und plötzlich war man für sich selbst zuständig und die ganzen Versprechungen, die man bis dahin noch gekriegt hatte oder diese Illusion, wir kämpfen für eine bessere Welt, ja das war ja alles nicht mehr existent.“

Neben den Kindern aus Namibia gab es ebenso Kinder und Jugendliche aus Mosambik, die durch ein vergleichbares „Hilfsprogramm“, so nannte es die DDR-Führung, ihre Kindheit in Ostdeutschland verbrachten (vgl. MDR Zeitreise; daneben gab es Vertragsarbeiter u.a. aus Mosambik, die sog. Madgermans und ihre Kinder). Somit kann nicht von Einzelfällen gesprochen werden (zu einer ausführlichen Untersuchung neuerdings Caroline Schmitt & Matthias D. Witte (2019): Refugees across the generations. Generational relations between the ‘GDR children of Namibia’ and their children, Journal of Ethnic and Migration Studies, DOI: 10.1080/1369183X.2019.1580566).

III. Rechtliche Einordnung

Nach den tatsächlichen Schilderungen stellt sich nun die Frage nach einer rechtlichen Aufarbeitung dieses Themas. In einem ersten Schritt sind spezielle Regelungen in den Blick zu nehmen, mit denen das damalige DDR-Unrecht aufgearbeitet werden sollte. In einem zweiten Schritt sind die allgemeinen Regeln des Asyl- und Ausländerrechts zu untersuchen. Dabei sollen aber nur die Gründe beleuchtet werden, die allein aus dem Umstand begründet werden können, dass es sich um „DDR-Kinder“ aus Namibia handelt (so bleiben Möglichkeiten wegen Ausbildung [§§ 16 ff. AufenthG] oder Erwerbstätigkeit [§§ 18 ff. AufenthG] bewusst außen vor).

1. Anspruch auf Rückkehr

Solch ein Anspruch ist – wie zu erwarten – nicht normiert. Soweit ersichtlich finden sich zu diesem Themenkomplex keinerlei explizite Regelungen. Ansatzpunkt könnte das zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz vom 1.7.1994 (BGBl. I, 1994, S. 1311) sein, welches ein Verwaltungsrechtliches Rehabilitierungsgesetz (VwRehaG) und ein Berufliches Rehabilitierungsgesetz (BerRehaG) beinhaltet. Dabei lautet § 1 Abs. 1 S. 1 VwRehaG wie folgt: „Die hoheitliche Maßnahme einer deutschen behördlichen Stelle zur Regelung eines Einzelfalls in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet (Beitrittsgebiet) aus der Zeit vom 8. Mai 1945 bis zum 2. Oktober 1990 (Verwaltungsentscheidung), die zu einer gesundheitlichen Schädigung (§ 3) […] geführt hat, ist auf Antrag aufzuheben, soweit sie mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates schlechthin unvereinbar ist und ihre Folgen noch unmittelbar schwer und unzumutbar fortwirken.“

So müsste man sich fragen, ob zumindest die Rückführung nicht eine solche hoheitliche, einzelfallbezogen Maßnahme, m.a.W. ein Verwaltungsakt, war. Problematisch ist zudem das Tatbestandsmerkmal der hier in Betracht kommenden gesundheitlichen Schädigung. Eine konkrete Aussage findet sich in § 3 VwRehaG nicht, was eine gesundheitliche Schädigung ist. Stellt man dabei einen durchaus naheliegenden Vergleich mit dem Schutz der Gesundheit im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB an, und zieht vielleicht weitergehend einen Bogen zum Allgemeinen Persönlichkeitsrecht, könnten meines Erachtens auch psychologische und traumatische Erkrankungen erfasst sein (vgl. zum Schutz bei § 823 BGB nur Wagner, in MünchKomm zum BGB, 7. Auflage 2017, § 823 Rn. 182 und auch Rn. 168).

Dass gesundheitliche Schädigungen, insbesondere psychische Erkrankungen, vorliegen und auch noch fortwirken, kann – abhängig vom Einzelfall – durchaus angenommen werden. Der Kontakt mit der Mandantin deutet ebenfalls darauf hin. So stellte eine Studie fest: „Indeed, it is evident that there is a parallelism of crises in the biography of the ‘ex-GDR-children’ and their children. As German-speaking black people, both the parents and the children fall into ‘in-betweenness’: They feel neither accepted as a part of the German-speaking white community nor of the Ovambo.“ (Caroline Schmitt & Matthias D. Witte (2019): Refugees across the generations. Generational relations between the ‘GDR children of Namibia’ and their children, Journal of Ethnic and Migration Studies, DOI: 10.1080/1369183X.2019.1580566). Diese Auswirkungen müssten im Ergebnis so fassbar sein, dass sich von einer psychischen Erkrankung gesprochen werden kann.

Ob daraus die verwaltungsrechtliche Entscheidung der Rückführung irgendwie angegangen werden kann, bleibt offen. Das waren lediglich erste Überlegungen zu einem bisher – und gerade für Law Clinics – unerforschten Bereich. Eine Lösung bedürfte wohl politischer Unterstützung.

2. Aufenthalt nach § 22 AufenthG

Möglicherweise kommt ein Aufenthalt nach § 22 AufenthG in Frage. Dabei lautet dessen Satz 1: „Einem Ausländer kann für die Aufnahme aus dem Ausland aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden.“

a) Allgemeines zur Norm und Abgrenzung zu § 23 AufenthG

In Abgrenzung zu § 23 AufenthG umfasst § 22 AufenthG die Aufnahme eines Ausländers, während § 23 AufenthG eine Ausländergruppe nennt (vgl. auch Hecker, in BeckOK AuslR, 24. Ed. 1.11.2016, § 22 AufenthG Rn. 1). In den Fällen der „DDR-Kinder“ könnte man nun argumentieren, dass diese als Ausländergruppe anzusehen sind. Wir wollen uns aber den Einzelfall anschauen, denn, wie in unserem Fall in Mannheim, werden sich die „DDR-Kinder“ nur vereinzelt melden. Eine Gruppenaufnahme nach § 23 AufenthG kommt daher nur selten in Betracht.

Ob der Aufnahmegrund vorliegt, ist von der zuständigen Auslandsvertretung im Rahmen des Visumverfahrens zu prüfen. Nach § 31 AufenthV ist die hier in Deutschland voraussichtlich zuständige Ausländerbehörde zu beteiligen (sog. Vorabzustimmung).

b) Tatbestand

§ 22 AufenthG ist nach seinem Wortlaut anwendbar, wenn der Ausländer sich im Zeitpunkt der ersten Entscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis noch nicht im Bundesgebiet aufhält und die Erteilung einer anderen Aufenthaltserlaubnis ausgeschlossen ist (vgl. Verwaltungsvorschrift 22.0.2). Dies ist wohl in den meisten Fällen einschlägig.

Nun stehen zwei Alternativen zur Prüfung bereit, die den Tatbestand des § 22 AufenthG erfüllen können. Zum einen die Aufnahme aus völkerrechtlichen Gründen und zum anderen aus dringenden humanitären Gründen.

Völkerrechtliche Gründe können völkerrechtliche Verpflichtungen oder durch Völkervertrag begründete Handlungsoptionen sein (vgl. Hecker, in BeckOK AuslR, a.a.O., Rn. 9). Dafür, dass eine solche völkerrechtliche Pflicht besteht, gibt es keine Anhaltspunkte.

Deshalb ist die andere Tatbestandsalternative der humanitären Gründe näher in den Blick zu nehmen. Humanitäre Gründe sind immer dann gegeben, wenn sich der Antragsteller in einer extremen Notsituation findet und seine Lage zugleich durch Besonderheiten gekennzeichnet ist, die es erforderlich erscheinen lassen oder zumindest rechtfertigen, ihn gerade in Deutschland aufzunehmen. Im Grundsatz sind nur Ausnahmefälle erfasst (Hecker, in BeckOK AuslR, a.a.O., Rn. 10). Es geht um eine Hilfsmaßnahme, der sich die Bundesrepublik Deutschland aus moralischen bzw. menschlichen Gründen nicht verschließen kann (Verwaltungsvorschrift 22.1.1.2; Stiegeler, in NK-AuslR 2. Aufl. 2016, AufenthG § 22 Rn. 4). Die Gründe müssen dringend im Sinne einer Sondersituation sein (vgl. Bergmann/Dienelt/Bergmann/Röcker, 12. Aufl. 2018, AufenthG § 22 Rn. 8).

Mögliche Kriterien nach der Verwaltungsvorschrift 22.1.1.2 sind folgende:

  • Bestehen einer erheblichen und unausweichlichen Gefahr für Leib und Leben,
  • enger Bezug zu Deutschland (frühere Aufenthalte, Familienangehörige in Deutschland u. ä.),
  • besondere Anknüpfungspunkte an ein bestimmtes Bundesland in Deutschland,
  • Kontakte in Deutschland zu Personen/Organisationen, die ggf. bereit wären, Kosten für Aufenthalt/Transport zu übernehmen,

Die allgemeinen Regelungen für Einreise und Aufenthalt sind zu beachten, d. h. insbesondere §§ 5, 11 AufenthG (vgl. Verwaltungsvorschrift 22.0.4). Hier wird insbesondere die Frage sein, ob der Lebensunterhalt gesichert ist. Nach § 5 Abs. 3 S. 2 kann im Ermessenswege von den Regelerteilungsvoraussetzungen unter Berücksichtigung des im Einzelfall gegebenen Aufnahmegrundes insgesamt oder im Einzelnen abgesehen werden (vgl. Verwaltungsvorschrift 5.3.2.1).

c) Einschätzung für den konkreten Fall

Es sprechen gute Gründe dafür, in Fällen der „DDR-Kinder“ aus Namibia einen humanitären Grund anzunehmen. Die psychologischen Belastungen der Betroffenen durch die Erlebnisse vor gut 30 Jahren begründen erhebliche Gefahren für deren Gesundheit. Nach den Jahren in Deutschland wurden die Kinder – ohne jegliche psychologische Unterstützung – in ein fremdes Land, mit einer für sie fremden Kultur und zu Eltern geschickt, die ihnen fremd waren (vgl. Protokoll des Goethe-Instituts und zu den Folgen aufgearbeitet von Caroline Schmitt & Matthias D. Witte (2019): Refugees across the generations. Generational relations between the ‘GDR children of Namibia’ and their children, Journal of Ethnic and Migration Studies, DOI: 10.1080/1369183X.2019.1580566 ). An diesen Folgen, so berichtete uns auch die betreute Mandantin, leiden noch viele ehemalige „DDR-Kinder“ in Windhoek. Ein weiterer Punkt ist, dass ein enger Bezug zu Deutschland vorliegt und dass nur Deutschland als Aufnahmeland in Frage kommt, lässt sich wohl kaum bestreiten.

Ausschlaggebend für die Beurteilung des Sachverhalts und einer juristischen Auseinandersetzung dürfte aber folgendes Argument sein: bei der Aufnahme der „DDR-Kinder“ aus Namibia handelt es sich um ein Gebot der Menschlichkeit und Deutschland sollte sich seiner Verantwortung, auch mit Blick auf die Aufarbeitung des DDR-Unrechts, nicht verschließen. Dieser Aspekt rechtfertigt eine Privilegierung dieser Betroffenengruppe und eine Aufnahme über § 22 AufenthG.

Letztendlich wird die deutsche Botschaft in Namibia eine dem Einzelfall und dem Ausnahmecharakter der Norm entsprechende Entscheidung fällen müssen. Eine politische Unterstützung wäre von großem Vorteil für die Betroffenen.

IV. Resümee

Das Ergebnis bleibt unbefriedigend. Da wäre der Punkt, dass das Thema zu wenig Aufmerksamkeit erfährt. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die rechtliche Beurteilung der Sachverhalte. Der Beitrag sollte ein erster Aufschlag sein; weitere Anregungen und Kritik sind erwünscht.

Ein weiterer Punkt ist meines Erachtens die Rechtlosstellung der Betroffenen. Sie hatten keinerlei rechtliche Handhabe zum Zeitpunkt der geschilderten Ereignisse. Das lag zum einen daran, dass sie Kinder waren und zum anderen war die Rechtsstaatlichkeit in der DDR nicht gewährleistet. Diesen Punkt kann Deutschland nun wieder aufgreifen und umkehren. § 22 AufenthG bietet die Möglichkeit, den Betroffenen zu helfen. Für diejenigen, die eine Rückkehr nach Deutschland anstreben, sollte dieser Weg offen stehen.


Zitiervorschlag:
Vollmerhausen: „DDR-Kinder“ aus Namibia – 30 Jahre nach dem Mauerfall, RLC Journal (2020) 2. 
<https://rlc-journal.org/2020/„ddr-kinder“-aus-namibia/>


Die Inhalte der Artikel geben allein die Meinung der Autoren und nicht notwendigerweise die der Redaktion wieder. Die Beiträge enthalten ggf. Links zu externen Webseiten, auf deren Inhalte wir keinen Einfluss haben. Aus diesem Grund können wir für diese auch keine Gewähr übernehmen.