In anderer Form auch erschienen im Migazin: Wie Grundwerte der EU mit Füßen getreten werden.
Die Europäische Union setzt die Mittelmeer-Operation „Sophia“ aus. Es bleibt künftig nur bei einer Überwachung aus dem Luftraum, die Schiffe werden eingezogen. Umso wichtiger erscheinen Maßnahmen der privaten Seenotrettung, wenn europäische Institutionen ihrer Verantwortung nicht gerecht werden. Doch auch die private Seenotrettung, insbesondere vor der Küste Libyens wird zunehmend kriminalisiert, ihre Schiffe beschlagnahmt und Ermittlungen eingeleitet. Mit diesem Artikel wird der Versuch einer rechtlichen Einordnung der privaten Seenotrettung auf dem Mittelmeer unternommen, um den Charakter dieser Einsätze ansatzweise zu bestimmen.
Seenotrettung aus völkerrechtlicher Sicht
Seenot liegt grundsätzlich vor, wenn ein Schiff sich nicht mehr aus eigener Kraft in Sicherheit bringen kann und auf See ernster Schaden einzutreten droht. Der Begriff der Seenot ist jedoch nicht legal definiert und lässt sich nicht ohne Weiteres aus dem Völkergewohnheitsrecht herleiten. Die erste Kodifizierung über ein verbindliches Verhalten bei einem Fall von in Seenot geratenen Schiffen fand 1910 im „Übereinkommen zur einheitlichen Feststellung von Regeln über die Hilfeleistung und Bergung in Seenot“ statt (Englisch: Assistance and salvage at sea). Die unterzeichnenden Staaten verpflichteten sich u.a. dazu, dass der Schiffskapitän oder die Schiffskapitänin, ohne sein oder ihr Schiff und deren Crew zu gefährden, einem anderen Schiff, sei es auch ein feindliches Schiff, Hilfe leistet, wenn er oder sie feststellt, dass dieses auf See unterzugehen droht (Art. 10 des Übereinkommens).
Das zentrale Abkommen zur Regelung des allgemeinen Seevölkerrechts ist das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (SRÜ), das 1982 unterzeichnet wurde und 1994 in Kraft trat (Wolfgang Graf Vitzthum, Handbuch des Seerechts, 2006, Rn. 106.). Darin sind insbesondere das Küstenmeer, die Anschlusszone, die Wirtschaftszone sowie die Hohe See festgelegt und verbindlich definiert (vgl. Art. 3ff., 33, 55ff., 86ff. SRÜ).
Das Abkommen regelt darüber hinaus die Pflicht zur Hilfeleistung der in Seenot geratenen Schiffe. Gemäß Art. 98 Absatz 1 lit. b) SRÜ ist Personen zur Hilfe zu eilen, sobald Kenntnis vom Hilfebedürfnis erlangt wird und diese Hilfe vom Schiffskapitän oder von der Schiffskapitänin erwartet werden kann. Wie diese Hilfebedürftigkeit auszusehen hat und an welchen Kriterien eine Seenotrettung anzuknüpfen ist, lässt das Abkommen offen. Indizien, wie Seenot zu bewerten ist, finden sich bspw. in der Verordnung (EU) Nr. 656/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Regelungen für die Überwachung der Seeaußengrenzen im Rahmen der von der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union koordinierten operativen Zusammenarbeit. So hat zum Beispiel die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) eine Seenot danach zu bewerten, ob u.a. die Seetüchtigkeit des Schiffes gegeben ist und es die Küste sicher erreichen kann, ob das Schiff überbelegt ist, ob genug Vorräte vorhanden sind, ob an Bord Schwangere, Kinder oder sogar Tote sind und ob dringend medizinische Hilfe benötigt wird, vgl. Art 9 Abs. 2 lit. F der EU-Verordnung 656/2014. Somit bleibt es in der Entscheidung eines Schiffskapitäns oder einer Schiffskapitänin, ob Seenot vorliegt.
Die Rettungspflicht aus Art. 98 SRÜ gilt in gemeinsamer Auslegung mit Art. 18 Absatz 2 Satz 2 SRÜ für die Schiffe aller Staaten, unabhängig davon, in welchen Gewässern sich eine Notsituation ereignet. Völkerrechtliche Verträge verpflichten nur diejenigen Staaten, die den Vertrag unterzeichnet und ratifiziert haben (Andreas von Arnauld, Völkerrecht, 2016, 3. Auflage, Rn. 207.).
Die Pflicht der Seenotrettung ergibt sich aber ebenfalls aus Völkergewohnheitsrecht (Wolfgang Graf Vitzthum, Handbuch des Seerechts, 2006, Rn. 112.), an das sich jeder Staat halten muss (Andreas von Arnauld, Völkerrecht, 2016, 3. Auflage, Rn. 258.). Diese resultiert aus jahrhundertealter Tradition in der Schifffahrt. Die Pflicht zur Rettung von in Seenot geratenen Personen trifft somit jedes Schiff auf See, unabhängig von Flagge, Ziel oder Zweck.
Koordinierung der Rettungseinsätze im Mittelmeer
Die Koordinierung von Rettungseinsätzen wird von den Küstenstaaten übernommen. Zur Errichtung von Rettungszonen wurden die Anforderungen im Übereinkommen über Seenotrettung von 1979 (Convention on Maritime Search and Rescue, SAR-Konvention) festgelegt. Diese Konvention ist vordergründig mit dem Ziel entstanden, alle Meere weltweit unter den Küstenstaaten in Zonen aufzuteilen, um bei Notfällen sicherzustellen, dass der nach der Konvention zuständige Küstenstaat Nothilfe leistet (Präambel der SAR-Konvention). Somit werden in allen SAR-Zonen Rettungsstellen betrieben und von demjenigen Staat koordiniert, der die SAR-Zone im eigenen Namen notifiziert hat (Art. 2.1.4 des Annexes der SAR-Konvention). Das Abkommen verändert jedoch nicht die seevölkerrechtlichen Regelungen. Die Hoheit im Küstenmeer verbleibt bei den Staaten; ebenso bleiben die völkerrechtlichen Regelungen über die wirtschaftliche Zone und über die Hohe See unverändert (Art. 2.1.7 des Annexes der SAR-Konvention).
Die SAR-Zonen sind nicht festgelegt. Sie werden von den Anrainerstaaten in eigener Regie aufgeteilt und dem UN-Generalsekretär mitgeteilt (Art. 2.1.1f. des Annexes der SAR-Konvention). Somit werden SAR-Zonen notifiziert und die Koordinierungsstelle mitgeteilt. Diese müssen gemäß der SAR-Konvention ausreichend mit Funkgeräten ausgestattet, 24h erreichbar und in englischer Sprache besetzt sein. Ist eine SAR-Zone notifiziert, so werden alle Rettungseinsätze in dieser Zone von einem Staat zentral koordiniert und dieser erteilt laut der SAR-Konvention die Anweisungen, auch für private Schiffe.
Wie anfangs erwähnt, geht es hierbei primär um Rettungseinsätze vor der Küste Libyens. Laut der EU-Kommission hat Libyen im Juli 2017 eine eigene SAR-Zone angemeldet und diese dem UN-Generalsekretär auch mitgeteilt (EU-Dok. Nr. E- 000547/2018 des Europäischen Parlaments). Die Notifizierung wurde jedoch wieder zurückgezogen. Zudem liegen über diese SAR-Zone bei den Institutionen einiger Staaten, bspw. bei der United States Coast Guard bis heute keine Informationen vor. Auf der Seite von der Canadian Coast Guard erscheint beispielsweise nur eine Telefonnummer der libyschen Küstenwache. Eine erneuerte libysche SAR-Zone soll jedoch wieder aufgebaut und spätestens 2020 funktionstüchtig sein. Zudem belegen Medienberichte, dass die libysche Küstenwache ohnehin der Verantwortung im Mittelmeer nicht gerecht wird.
Darauf, ob eine libysche SAR-Zone besteht oder nicht, wird in diesem Artikel nicht weiter eingegangen. Im Artikel werden beide Konstellationen bezogen auf ihre rechtlichen Konsequenzen erläutert . Zunächst der Fall einer Seenotrettung ohne libysche SAR-Zone, die die völkerrechtlich verbindliche Hoheit über das Küstenmeer ohnehin nicht tangiert. Anschließend wird die Konstellation mit libyscher SAR-Zone näher veranschaulicht.
Seenotrettung ohne libysche SAR-Zone
Hat Libyen offiziell keine SAR-Zone eingetragen, so beschränkt sich sein Anweisungsrecht bei Einsätzen der Seenot auf das völkerrechtliche Küstenmeer und in bestimmten Fällen auf die Anschlusszone (Knut Ipsen, Völkerrecht, 2014, 6. Auflage, S. 906). Die privaten Schiffe müssen somit den Anweisungen der libyschen Küstenwache auf Hoher See nicht Folge leisten (Art 87 SRÜ). Ist eine SAR-Zone nicht einem Staat zugeordnet, so regelt das SAR-Abkommen keine explizite Zuständigkeit eines anderen Staates. Der Europarat hat in seiner Resoultion 1872 (2012) die Übernahme der Einsatzkoordination durch andere Staaten empfohlen, wenn ein Staat seine Zuständigkeit nicht wahrnimmt oder wahrnehmen kann, hier Libyen (Z. 13.1). So hat beispielsweise die EU-geführte Operation EUNAVFOR im Seegebiet zwischen Italien und Libyen auch als Seenotrettung fungiert, obwohl sie ursprünglich andere Ziele verfolgte. Die Koordinierung dieser Einsätze erfolgt aus Rom. Das Recht der Freiheit auf Hoher See kann somit seitens libyscher Kräfte nicht beschränkt oder behindert werden.
Seenotrettung mit libyscher SAR-Zone
Ist eine libysche SAR-Zone notifiziert, so wird ein Rettungseinsatz von Libyen aus koordiniert. Es ist nach dem SAR-Abkommen sicherzustellen, dass der Rettungseinsatz sowohl durch private als auch staatliche Schiffe effektiv koordiniert wird. Alle Schiffe müssen gemäß dem SAR-Abkommen Anweisungen der leitenden Zentralstelle Folge leisten, deutsche Schiffe werden zudem aus § 2 I S. 2 SeeSicherV dazu verpflichtet.
Ist Libyen für die Koordinierung des Einsatzes zuständig, so muss dieser möglichst effektiv und mit geringen Ressourcen vonstattengehen können. Sind mehrere Schiffe im Einsatz, wird eines davon als „on-scene-commander“ benannt und leitet den Einsatz unmittelbar vor Ort. Strittig ist es, wenn vor Ort das eine Schiff, in dieser Annahme ein privates Schiff, mit dem „on-scene-commander“, hier grundsätzlich ein libysches, staatliches Schiff, nicht kooperiert, weil das private Schiff Zweifel daran äußert, dass das einsatzleitende Schiff sich für die Seenotrettung eignet. Kann der Kapitän oder die Kapitänin des privaten Schiffs die Eignung nicht sicherstellen, so liegt es in seinem/ihrem Ermessen, wie Seenot am schnellsten und ohne Verluste oder Schäden überwunden werden kann. Das geht aus dem Grundgedanken des Art. 98 SRÜ hervor (Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages – Gutachten WD 2 – 3000 – 013/18, S.6f.).
Zurückweisung der Geflüchteten nach Libyen
Im Rahmen politischer Auseinandersetzungen wird zudem die Idee ausgeführt, aus Seenot gerettete Menschen wieder nach Libyen zurückzubringen und sie dort abzusetzen. Indes ist zu fragen, ob europäische das Schiffe dürfen, insbesondere ob dieses Verfahren nicht gegen internationale Abkommen verstößt.
Das Gebot der Nichtzurückweisung (auch bekannt als Non-refoulement-Gebot) ist sowohl in Art. 33 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (auch bekannt als Genfer Flüchtlingskonvention – GFK) und in Art. 19 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert. Das Verbot der Ausweisung von Geflüchteten gilt bei Staaten, in denen Geflüchteten die Todesstrafe, Folter oder ernsthafter Schaden drohen. Laut dem letzten Bericht des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte sind Geflüchtete in Libyen schwersten Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Sie werden Ziel rechtswidriger Tötungen, Folter, Vergewaltigung und Misshandlungen verschiedenster Art. Zudem konstatierte das Auswärtige Amt „KZ-ähnliche Zustände“ und systematische Menschenrechtsverletzungen in den Unterbringungen von Geflüchteten.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied in einem Grundsatzurteil, dass Art. 3 der Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), aus der sich das Verbot der Zurückweisung herleiten lässt, seine Geltung auch auf Hoher See entfaltet und somit eine Zurückweisung unzulässig ist, weil die Staaten, die der EMRK beigetreten sind, faktisch ihre Hoheitsgewalt auch auf ihren Schiffen auf Hoher See ausüben (ECHR, Hirsi Jamaa and others v. Italy, Application no. 27765/09).
Solange sich nicht die Situation in Libyen nachweislich verbessert und die Menschenrechte der Geflüchteten gewährleistet sind, ist eine Aus- oder Zurückweisung nach Libyen mit den Prinzipen des non-refoulement nicht vereinbar.
Fazit
Mit Blick auf die Ausgangsfrage, ob private Seenotrettung ein kriminelles Geschäft ist, lässt sich zusammenfassend sagen, dass jedes Schiff – auch private Schiffe – auf See zur Seenotrettung verpflichtet ist. Die Hoheit der Staaten in ihrem Küstenmeer bleibt von dieser Pflicht unberührt.
Es ist also kein kriminelles Geschäft – ganz im Gegenteil. Es ist die Wahrnehmung völkerrechtlicher Verpflichtungen und das Ermöglichen der Inanspruchnahme der eigenen Rechte von Geflüchteten.
Zitiervorschlag:
Sopa, Elmedin: Private Seenotrettung ist ein kriminelles Geschäft. Stimmt das?, RLC Journal (2019) 7.
<https://rlc-journal.org/2019/private-seenotrettung-ist-ein-kriminelles-geschaft-stimmt-das?>.