Von tragischen Zauberlehrlingen und juristischen Zauberstäben

Rezension zu Detjen/Steinbeis, „Die Zauberlehrlinge. Der Streit um die Flüchtlingspolitik und der Mythos vom Rechtsbruch“.

Die schwerste argumentative Keule, die man in einem demokratischen Rechtsstaat schwingen kann, ist der Verfassungsbruch. Über eine Maßnahme, die verfassungswidrig ist, muss man politisch nicht mehr diskutieren, kein Für und Wider finden. Auf dem Höhepunkt der sogenannten „Flüchtlingskrise“ kam die Rede von der „Herrschaft des Unrechts“ auf, der Bundesregierung wurde Rechts- und Verfassungsbruch vorgeworfen. Diese Aussagen sind weit von der rechtlichen Realität entfernt, vergiften aber die Debatte, ja, das gesellschaftliche Klima bis heute.

Die ich rief, die Geister / werd‘ ich nun nicht los

Dies legen die Journalisten und Juristen Stephan Detjen und Maximilian Steinbeis in ihrem Buch „Die Zauberlehrlinge. Der Streit um die Flüchtlingspolitik und der Mythos vom Rechtsbruch“ im Rahmen einer Diskursgeschichte der Rechtsbruchthese dar und bieten dabei einige interessante Einsichten. Gleich zu Beginn des Buches, als sich die Autoren den Ursprüngen der Aussage, in Deutschland herrsche das Unrecht, nähern, erfahren die Leser*innen, warum der Titel des Buchs auf Goethes Zauberlehrling Bezug nimmt. Der verhext aus dem harmlosen Grund, nicht selber putzen zu wollen, einen Besen und verliert dann völlig die Kontrolle über ihn, was beinahe in einer Katastrophe endet.

Der tragischste Zauberlehrling in der Erzählung von Detjen und Steinbeis ist Horst Seehofer. Er hatte kurz vor dem Politischen Aschermittwoch der CSU im Februar 2016 in einem Zeitungsinterview von der Herrschaft des Unrechts gesprochen – scheinbar, wie man nun erfährt, in dem Bestreben, der CSU-Veranstaltung Aufmerksamkeit zu verschaffen und den Satz dann dort nicht noch einmal in der Schärfe zu wiederholen, sondern ihn vielleicht sogar abzuschwächen. Dazwischen kam ihm ein Zugunglück in Bayern, das viele Tote forderte und zur Absage von Seehofers Rede führte. Der Vorwurf aber, die Bundesregierung breche Recht und Gesetz, stand im Raum und verselbstständigte sich – ganz wie der Besen des Zauberlehrlings. Eingebettet ist dies im Buch in eine Darstellung der Ereignisse ab dem Frühsommer 2015. Pointiert, wenn auch über mehrere Kapitel zwischen den Jahren 2015 und 2016 mäandernd, geben die Autoren verschiedene Ereignisse auf europäischer und deutscher Ebene wieder. Diese Schilderung macht nachvollziehbar, warum sich die Entwicklung so vollzogen hat, wie sie es tat. Dabei ordnen sie die Situation rechtlich ein: Nach einer beklemmenden Schilderung einer Sitzung im Bundesinnenministerium zur Frage, ob an der deutsch-österreichischen Grenze Schutzsuchende zurückgewiesen werden sollten (die den Eindruck verstärkt, dass es ganz richtig ist, dass Polizei Länder- und nicht Bundessache ist), widmen sie sich der deutschen und europäischen Rechtslage. Geduldig und verständlich entwickeln sie die Unterschiede vom (seit 1993 stark eingeschränktem) Asylgrundrecht, von Asyl- und Aufenthaltsrecht und Europarecht, insbesondere den Dublin-Verordnungen. Deutlich wird auch, dass es die Bundesrepublik war, die in den 2000er-Jahren auf europäischer Ebene verhinderte, dass die Verfahrenshürden im Europäischen Rat für Fragen der Migrationspolitik hoch bleiben – was sich später rächen sollte. Auch hier erinnern die Akteur*innen an Zauberlehrlinge. Diese Ausführungen sind wie das ganze Buch in einer schönen, bildreichen und doch klaren Sprache gehalten, die sich vom Tonfall juristischer Fachzeitschriften angenehm unterscheidet und somit vielen Leser*innen zugänglich sein dürfte. Mitunter hat man in den ersten Kapiteln allerdings das Gefühl, die Autoren verlören sich ein wenig in Details, in Schilderungen von Sitzungen und Verhandlungen.

Die Ursprünge des Rechtsbruch-Mythos

Rechtlicher Ausgangspunkt der These vom Rechtsbruch ist § 18 Abs. 2 Nr. 1 des Asylgesetzes (AsylG). Darin heißt es, einem Menschen, der einen Asylantrag stellt, sei die Einreise zu verweigern, wenn er aus einem sicheren Drittstaat einreist. Dies ist zwar an der deutsch-österreichischen Grenze der Fall, als EU-Mitglied ist Österreich selbstverständlich ein sicherer Drittstaat. Nun gibt es Ausnahmeregelungen schon in § 18 AsylG. Wichtiger als diese ist aber Art. 17 der Dublin-III-Verordnung. Der Artikel sieht innerhalb des Dublin-Systems ein Selbsteintrittsrecht für alle Mitgliedsstaaten vor – und geht als europarechtliche Regelung dem Asylgesetz vor (vgl. Thym 2018). Das Dublin-System normiert gewissermaßen Verpflichtungen für alle Mitgliedsstaaten, die ein gemeinsames europäisches Asylsystem aufstellen. Es ist aber – entgegen landläufiger Behauptungen – kein Bruch dieses Systems, keine Aushebelung oder Auslöschung von Dublin, sich für Asylverfahren zuständig zu erklären, zu deren Übernahme man nicht verpflichtet ist. Dieses Verfahren ist im Gegenteil im Dublin-System selbst angelegt, weil es letztlich dazu dient, seine Kernziele zu erfüllen: Schutzsuchende sollen sich zwar nicht aussuchen können, in welchem Staat sie einen Asylantrag stellen (sog. asylum oder forum shopping), sie sollen aber auch nicht schutzlos von einem Staat zum nächsten gewiesen werden können (refugees in orbit, vgl. Lehner 2015). Letzteres wird durch einen Selbsteintritt eines Staates eindeutig gefördert. Die Autoren unterfüttern ihre Analyse mit einer Darstellung mehrerer einschlägiger Urteile des Europäischen Gerichtshofs und verpassen es gleichzeitig nicht, auch auf die Schwächen des Dublin-Systems hinzuweisen (vgl. auch Lübbe 2015), das nun aber einmal geltendes Recht ist.

Nachdem herausgearbeitet wurde, dass die Bundesregierung das Recht also nicht gebrochen hat, kommen die Autoren zur Kernfrage ihres Buchs, die tatsächlich bisher nicht umfangreich öffentlich diskutiert wurde: Warum sich diese – ja offenbar leicht widerlegbare – These immer noch so hartnäckig hält, warum sich die Bundeskanzlerin einerseits, Geflüchtete und Engagierte andererseits immer wieder vorhalten lassen müssen, 2015 sei etwas Ungeheuerliches passiert, das die deutsche Rechtsordnung an den Rand des Untergangs gebracht habe. Hierfür bedienen sich die Autoren eines Abstechers in die Untiefen der deutschen Rechtswissenschaft. In einem nicht unmittelbar einleuchtenden – und für Nicht-Jurist*innen wohl nur mäßig spannenden – Kapitel legen sie minutiös Diskussionen und Debatten innerhalb der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer dar. Hat man sich durch anekdotenhafte Schilderungen von Tagungsorten und Vier-Gänge-Menüs gekämpft, tritt aber doch noch zutage, was man aus den soeben gelesenen Seiten mitnehmen kann. Steinbeis und Detjen präsentieren einen einflussreichen Kreis konservativer Rechtsprofessoren (es handelt sich ausschließlich um Männer), die einer etatistischen Lehre anhängen.

Sie sehen den Staat als etwas, das vor der Verfassung steht, weil er ihre notwendige Voraussetzung ist. „Der Staat selbst ist Norm“, bringen die Autoren diese Ansicht auf den Punkt (S. 103). Sie steht in der Denktradition des umstrittenen Staatsrechtlers Carl Schmitt. Im Ernstfall – so tragen einige Professoren heute auch bezogen auf den Herbst 2015 vor – geht es dann nicht mehr um Recht, sondern um Macht (vgl. Schmitt 1922, S. 13 f.). Der Staat müsse sich gewissermaßen selbst behaupten, durch entschiedenes Handeln seine Existenz sichern. Im klassischen, auch im Schmittschen Denken, ist wesentliche Voraussetzung des Staates der Gegensatz von Freund und Feind (vgl. Schmitt 1932, S. 25). Im Ernstfall spitzt sich diese Unterscheidung zu, der Staat muss sich seines Feindes erwehren. Solche Argumentationen hörte man Anfang der 2000er-Jahre nach 9/11, sie wurden herangezogen, um offen über den Einsatz von Folter oder anderer eigentlich rechtsstaatlich geächteter Maßnahmen gegen Terroristen nachzudenken. Nun wurde die Ernstfall-Rhetorik auf die Lage an der deutsch-österreichischen Grenze übertragen – obwohl die Situation nicht im Ansatz vergleichbar ist, wie Detjen und Steinbeis mit einer wichtigen Klarstellung zeigen: Schutzsuchende können schon allein deshalb nicht ein abzuwehrender Feind sein, weil sie Recht und Ordnung nicht zerstören wollen, sondern ein eigenes Recht, das Recht auf Asyl, geltend machen. Macht man aber das Geltendmachen von Rechten zum staatsgefährdenden Ernstfall, „lässt sich alles delegitimieren, was den Staat rechtlich bindet, und zugleich alles legitimieren, was ihn ermächtigt“ (S. 100). Und noch ein weiteres Argument steht immer wieder im Raum: Die Bundesregierung habe 2015 wenn schon nicht einfaches Recht, dann doch aber wenigstens das Selbstbestimmungsrecht des Volkes verletzt. Das Staatsvolk sei eines der konstituierenden Elemente des (nach dieser Ansicht ja der Verfassung vorgehenden) Staates, und es müsse ja wohl mitreden dürfen, wenn so viele Nicht-Deutsche ins Land gelassen werden! Solcherlei Argumenten treten Detjen und Steinbeis entschieden entgegen. Sie legen dar, dass das Selbstbestimmungsrecht des Volkes im Grundgesetz auch im Bekenntnis zu Menschenrechten (in der Präambel und in Art. 1 Abs. 2), zum Völkerrecht (etwa Art. 25 GG) und zur Europäischen Union (Präambel und Art. 23) zum Ausdruck kommt. Selbstbestimmung heißt hier eben nicht Abschottung, sondern verantwortungsvolle Einordnung in einen internationalen Kontext. Das Argument, Selbstbestimmung heiße zwangsläufig, das deutsche Staatsvolk möglichst frei von äußeren Einflüssen zu halten, wirke als „ein Zauberstab, mit dem sich alles Recht, das Flüchtlinge und andere Migrantinnen als Träger von Rechten erkennt, als Unrecht delegitimieren lässt“ (S. 166). Die Analyse trifft den Kern dieser beiden Argumentationslinien, die letztlich auf einer hohen Abstraktionsebene mit Begriffen von Staat und Volk hantieren und nur aus ihrem eigenen Verständnis dieser Begriffe und ihrer Geschichte ableitbar sind. Das wird aber in ihrer medialen und politischen Rezeption nicht deutlich, die Begriffe werden vielmehr oft unkritisch übernommen, dabei sind sie mitnichten Stand der Wissenschaft (vgl. Bast/Möllers 2016) – was bleibt, ist bei vielen der Eindruck, Volk und Staat seien auf das Äußerste gefährdet.

Gelebte Verfassung und Europa

Infolge dieser Feststellung schlagen die Autoren einen großen Bogen. Nach einem weiteren Abschnitt, in dem eingehend die Instrumentalisierung dieser Lehren vom Rechtsbruch und vom staatlichen Ernstfall in der „Flüchtlingskrise“ im medialen und politischen Diskurs geschildert werden, wenden sie sich zwei Themen zu, die auch in dieser Woche besonders zusammenfallen: Dem Grundgesetz (70-jähriges Jubiläum am 23. Mai) und der EU (Europawahl am 26. Mai!). Die Erzählung vom Rechtsbruch und ihr weitestgehend unwidersprochenes Zirkulieren über Jahre im öffentlichen Diskurs zeige, so die Autoren, dass das Grundgesetz besser erklärt und offensiver verteidigt werden müsse. Mit Recht: Erst kürzlich zeigte eine Umfrage, dass vielen Menschen in Deutschland der Inhalt des Grundgesetzes weitgehend unbekannt ist. Gleichzeitig warnen sie vor allzu „frommen Gesten der Textverehrung“ (S. 232), die das Grundgesetz der Debatte entrücken. Die Verfassung schwebt nicht als ätherische Materie über unseren Köpfen; sie kann und muss Gegenstand öffentlicher Gestaltung, Diskussion und Entwicklung nicht nur in Fachkreisen sein. Expert*innen, und damit vor allem Jurist*innen, müssten aber auch klar machen, so Detjen und Steinbeis, dass das Grundgesetz ohne seine europäische Einbettung und die Einflüsse des Europarechts eigentlich gar nicht mehr richtig verstanden werden kann. Dass Europarecht eine Rechtsquelle genauso wie jede nationale Rechtsnorm ist, dass entgegenstehendes nationales Recht noch lange keinen Rechtsbruch begründet, wenn sich die Exekutive an eine sie bindende europäische Norm hält, auch wenn es manche Leute nicht wahrhaben wollen – all das sollte in der öffentlichen Diskussion deutlicher werden. Im Allgemeinen, so die Autoren, dürfe man die öffentliche Debatte nicht den „Geschichtenerzählern“ (S. 233) überlassen.

Diese Botschaft, mit der das Buch schließt, leuchtet ein. Insgesamt ist das Buch ein starkes Plädoyer für eine moderne, für Europa- und Völkerrecht, insbesondere die Menschenrechtskonventionen, offene Rechtsdiskussionskultur und für die europäische Integration im Allgemeinen. Wenn man sich mit den Rechten von Geflüchteten beschäftigt, bietet es viele kraftvolle Argumentationsmuster gegen populistische Reden. Vermissen lassen die Autoren aber den Blick auf die Perspektive von Geflüchteten. Sie bleiben letztlich Objekt des Diskurses und kommen nicht zu Wort. Dabei wäre es eine spannende Frage gewesen, wie die von Detjen und Steinbeis so stringent dargelegte Diskursgeschichte auf die Menschen wirkt, die darin als Feind, als Fremde, als Rechtsbrechende vorkommen. Wie nimmt man eine Gesellschaft wahr, in der man lebt, die einen aber mit solchen Begriffen beschreibt? Diese Gelegenheit verpasst das Buch. Dennoch bleibt es ein aufschlussreiches und überzeugendes Werk, das diejenigen, die es lesen, mit allerhand Argumenten und Einsichten versorgt, die im Diskurs denjenigen entgegengehalten werden können, die über einen Rechtsbruch schwadronieren, den niemand klar benennen kann. Ob es die entfesselten Geister der Rechtsbruchsthese aber noch einzufangen helfen kann, bleibt abzuwarten.

Stephan Detjen, Maximilian Steinbeis, Die Zauberlehrlinge. Der Streit um die Flüchtlingspolitik und der Mythos vom Rechtsbruch, 1. Aufl. 2019, Klett-Cottra, 263 Seiten, Klappenbroschur, 18,00€, ISBN: 978-3-608-96430-1


Literatur

Bast, Jürgen/Möllers, Christoph, Dem Freistaat zum Gefallen: über Udo Di Fabios Gutachten zur staatsrechtlichen Beurteilung der Flüchtlingskrise, VerfBlog, 2016/1/16, https://verfassungsblog.de/dem-freistaat-zum-gefallen-ueber-udo-di-fabios-gutachten-zur-staatsrechtlichen-beurteilung-der-fluechtlingskrise/

Detjen, Stephan/Steinbeis, Maximilian, Die Zauberlehrlinge. Der Streit um die Flüchtlingspolitik und der Mythos vom Rechtsbruch, Stuttgart 2019

Lehner, Roman, Grenze auf, Grenze zu? Die transnationale Wirkung von Rechtsverstößen im Dublin-System, VerfBlog, 2015/10/30, https://verfassungsblog.de/grenze-auf-grenze-zu-die-transnationale-wirkung-von-rechtsverstoessen-im-dublin-system/

Lübbe, Anna, Dublin ist gescheitert: Thesen zum Umbau des europäischen Asylsystems, VerfBlog, 2015/5/19, https://verfassungsblog.de/dublin-ist-gescheitert-thesen-zum-umbau-des-europaeischen-asylsystems/

Schmitt, Carl, Der Begriff des Politischen, Berlin 1932 (zitiert nach der 9. Auflage, Berlin 2015)

Schmitt, Carl, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 1922 (zitiert nach der 10. Auflage, Berlin 2015)

Thym, Daniel, Der Rechtsbruch-Mythos und wie man ihn widerlegt, VerfBlog, 2018/5/02, https://verfassungsblog.de/der-rechtsbruch-mythos-und-wie-man-ihn-widerlegt/


Zitiervorschlag:
Kokott, Lennart: Von tragischen Zauberlehrlingen und juristischen Zauberstäben, RLC Journal (2019) 11. 
<https://rlc-journal.org/2019/von-tragischen-zauberlehrlingen-und-juristischen-zauberstaben/>.  


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