In der Griechischen Ägäis: Hoffnungslosigkeit im Dauerzustand

In dem Hotspot-Lager auf Samos geht der EU Tag für Tag ein Teil ihrer selbst verloren

An der Uferpromenade des Städtchens Vathy auf Samos, einer griechischen Insel entlang der türkischen Grenze, herrscht um 10 Uhr reger Betrieb. Von hier überblickt man den kleinen Hafen des malerischen Städtchens. Am Horizont rollen die Hänge des 1153 Meter hohen Karvounis hinab in das Ägäische Meer. Das Straßenbild wird geprägt durch heimische Flaneure und viele Asylsuchende, die hier auf der Insel gestrandet sind. Die Promenade ist für sie ein besonderer Ort der Ruhe und Normalität. Hier entstehen unzählige Selfies. Denn sie wecken als Whatsapp-Profilbilder für Freunde und Familie zu Hause den Eindruck, dass alles gut ist, dass das Ziel und ein neues Leben erreicht sind. Kussmund und Kurven werden vorteilhaft vor der malerischen Szenerie drapiert und Klick! Profilbild. Allein, die Realität ist eine andere. Der Fußweg zurück zum selbstgekauften 10 Euro Zelt im Dreck des Flüchtlingslagers ist nicht weit.

Vor Ort war ich einen Monat lang für die Refugee Law Clinic Berlin tätig, die hier ein Projekt zur Rechts- und Verfahrensinformation für Geflüchtete betreibt. Ich führte Anhörungsvorbereitungen und Informationsworkshops durch, half Anträge für Familienzusammenführungen zu stellen und vorzubereiten. Ich wurde Zeuge eines Asylsystems, dass für den Ausnahmezustand des Jahres 2015 konzipiert wurde, inzwischen aber einen rechtswidrigen Dauerzustand geschaffen hat.

Eine Zeltstadt im Dreck

Auf Samos werden im Zeichen der europäischen Abschottungspolitik Asylsuchende unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten, ihre Hoffnungen auf ein sicheres Leben in Europa erstickt. Im Dreck am Steilhang im sogenannten „Dschungel“ harren zwischen 1500 und 2000 Menschen der Dinge. Insgesamt sind laut unveröffentlichten Zählungen des UN Flüchtlingshilfswerks, UNHCR, insgesamt 3488 Asylsuchende in dem Lager, das für etwa 650 Personen konzipiert wurde. Im Dschungel gibt es kein laufendes Wasser, keine Elektrizität, keine Wärme und keinen effektiven Zugang zu medizinischer Versorgung, zu Bildung oder zum Arbeitsmarkt. Es gibt etwa 50 zentrale Duschen und Toiletten für alle hier. Wenn es regnet, dann häufig sehr stark. Sturzfluten ergießen sich über den Steilhang, überschwemmen die Zelte von unten, durchnässen Klamotten, Schlafsäcke, Schlafunterlagen aus Karton, die in den Mülltonnen der Stadt zusammengesucht wurden. Die Kälte des einsetzenden Winters tut ihr Übriges. Die Kinder leiden unter den Bettwanzen, der Krätze und (verschiedenen Haut- und Atemwegs-) Infektionen. Tuberkulose ist ein ernstes Thema. Bei einigen Patienten liegt eine Infektion nah, die Krankheit kann auf der Insel aber nur ungenügend diagnostiziert werden. Die vielen Patienten – unter ihnen auch viele Kinder – können von einem staatlichen Arzt im Camp und einer kleinen medizinischen NGO bestenfalls notdürftig behandelt werden. Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen infolge von Foltererfahrungen und sexueller Gewalt haben in Vathy keine Möglichkeit, psychologische Behandlung zu erlangen. Das Kalkül ist klar: Ankunftszahlen sollen verringert und der Populismus in Mittel- und Westeuropa eingedämmt werden – den eindeutigen völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention zum Trotz. So ist Flüchtlingen nach Art. 23 der Konvention der gleiche Zugang zu Einrichtungen öffentlicher Gesundheit wie einheimischen Staatsangehörigen zu gewähren. Gleiches gilt für den Zugang zu Bildungseinrichtungen. Diese Verpflichtung wird durch die einschlägigen Vorschriften der UN Kinderrechtskonvention von 1989, insbesondere Art. 22, 24 und 28, für Kinder im Besonderen festgeschrieben.

Das Asylverfahren in de facto Haft

Um die humanitäre Krise auf den griechischen Inseln zu verstehen, muss man den rechtlichen Hintergrund kennen. Im März 2016 vereinbarte die EU mit der Türkei, dass Asylbewerber, für die die Türkei ein sicherer Empfangsstaat sei, nach dem sogenannten „sicheren Drittstaatsprinzip“ an die Türkei zurücküberführt werden sollen. Seitdem patrouillieren türkische Grenzschutzboote vor der türkischen Küste und verhaften einen Großteil der Menschen, die versuchen auf Booten überzusetzen. Einige unserer Klienten berichteten, dass sie in der Türkei sodann verhaftet wurden und Folter, Diskriminierungen und Rückschiebeandrohungen ausgesetzt waren. Für diejenigen, die trotz allem die griechischen Inseln erreichen, sind Ausnahmeregelungen verabschiedet worden, das sog. Fast-track Grenzverfahren. Das geltende griechische Gesetz sieht eine Bewegungssperre vor: In einer Art Verwaltungshaft dürfen Neuankömmlinge die Inseln nicht verlassen, bis abschließend über ihren Asylantrag befunden wurde. Entsprechend der EU-Richtlinie zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes aus dem Jahr 2013, muss ihnen in dieser Zeit adäquate Unterkunft, medizinische Versorgung, Zugang zu Bildung und Arbeit ermöglicht werden. Zugleich soll ein sogenanntes beschleunigtes Verfahren stattfinden. Innerhalb von maximal zwei Wochen soll das Asylverfahren grundsätzlich abgeschlossen sein.

Die Realität vor Ort ist jedoch, wie gesagt, eine andere. Für Unterkunft, Hygiene, medizinische Versorgung und Bildung ist nicht gesorgt. Die Verfahren dauern laut Griechischem Flüchtlingsrat mit durchschnittlich 83 Tagen deutlich länger – manche warten nach ihrer Anhörung über ein Jahr auf eine Entscheidung. So sitzen Menschen teilweise für Jahre auf der Insel fest, in ständiger Angst zurückgeschoben zu werden. Die Hintergründe für die Verzögerungen sind unklar. Teilweise fehlt es an geschultem Personal, geschulten Übersetzern und Psychologen. Es gibt auch einen massiven Rückstand an unabgeschlossenen Verfahren.

Nur sehr schutzbedürftige Menschen sollen grundsätzlich von den Ausnahmeregelungen ausgenommen und auf das Festland überführt werden. Laut Art. 14 des genannten griechischen Gesetzes sind a) unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, b) Personen mit einer Behinderung oder einer schwerwiegenden oder unheilbaren Krankheit, c) alte Menschen, d) schwangere Frauen oder Frauen, die vor kurzem entbunden haben, e) alleinstehende Eltern mit minderjährigen Kindern, f) Opfer von Folter, Vergewaltigung oder anderen schwerwiegenden Formen psychologischer, physischer oder sexueller Gewalt oder Ausbeutung, Opfer eines Schiffunglücks oder g) Opfer von Menschenhandel schutzbedürftig. Europäische Beamte sollen die Glaubwürdigkeit von Foltererfahrungen oder LGBT-Diskriminierung separat bewerten. Gerade besonders traumatisierte Asylsuchende sind auf die quälenden Fragen der Beamten nicht ausreichend vorbereitet.

Von der Ausnahme zum Dauerzustand

Das griechische Gesetz sieht weiterhin vor, dass die Ausnahmeregelungen nur solange verlängert werden sollen, wie „Drittstaatsangehörige oder Staatenlose in großen Zahlen ankommen und internationalen Schutz beantragen“. Eine Reform im Juni 2016 hatte eine Geltungsdauer von 6 Monaten vorgesehen, mit einer Verlängerungsmöglichkeit von weiteren 6 Monaten. Zuletzt wurde die Geltung der Ausnahmeregelungen durch eine Gesetzesreform im August 2017 jedoch für weitere 24 Monate beschlossen.

Die Ausnahmesituation in der Ägäis ist also längst zu einem Dauerzustand geworden. Dabei ist die Lage an der EU Außengrenze in Griechenland inzwischen eine ganz andere. Die EU-Grenzschutzbehörde Frontex meldete vor einem Monat, dass die Anzahl illegaler Grenzübergänge in Europa insgesamt auf dem geringsten Stand seit 2014 sei. Nach den Erhebungen des UNHCR haben in 2018 bislang 30.447 Menschen die griechischen Inseln erreicht. Damit ist die Zahl seit 2015 drastisch gesunken; damals wagten 856.723 Menschen die Querung. Seit Mai 2016 stagniert die Zahl der monatlichen Neuankünfte je nach Wetterlage zwischen 1086 und 4886. Die gesetzgeberische Rechtfertigung für den Ausnahmezustand auf den griechischen Inseln ist somit inzwischen weggefallen. Und doch wird eine Aufhebung der Ausnahmeregelungen derzeit nicht in Betracht gezogen.

Die Folgen: Einzelschicksale und humanitäre Krise

Die Folgen dieser Politik konnte ich in persönlichen Gesprächen mit Menschen vor Ort direkt erleben. So erhielten afghanische Familien im November die Termine für ihre Asylanhörung: Die Anhörungen sollen zwischen September 2020 und Februar 2021 stattfinden. Der zweijährige Sohn eines afghanischen Vaters etwa, wird am Tag der Anhörung über seinen Antrag auf internationalen Schutz länger in einem Zelt im Dreck gelebt haben als im Haus seiner Eltern in Kunduz. Der Vater arbeitete in Afghanistan unter anderem für die Bundeswehr und erhielt vor einem Jahr eine Todesdrohung von den Taliban. Die Bundesregierung verweigerte sein Antrag auf ein Humanitäres Visum nach § 22 AufentG.

Ein homosexueller Mann aus Mittelafrika berichtete mir, dass er täglich von anderen Bewohnern des Lagers bedroht wird und um seine körperliche Integrität fürchtet. Sein Antrag auf Aufhebung der geographischen Beschränkung wird dennoch bei jeder monatlichen Erneuerung seines Asyl-Ausweises abgelehnt. Er ist gezwungen, sich am Abend in seinem Zelt zu verstecken, seine Identität zu verbergen. Hier, wie auch in seinem Herkunftsland.

Ein junger Kameruner durchlebt in seinem Zelt jede Nacht aufs Neue die traumatisierenden 9 Monate, in denen er in einem staatlichen Gefängnis in einer drei Quadratmeter großen Zelle auf abscheulichste Weise gefoltert wurde. Ein Mann aus dem Irak wartet seit neun Monaten auf eine Entscheidung. Laut Gesetz hätte sie am Folgetag seiner Anhörung im März ergehen müssen.

In diesem rechtlosen Kosmos ist die wesentlichste Handelsware der Menschen die Hoffnung. Jedes Gerücht über baldige Verschiffungen aufs Festland, bevorstehende Verteilungen von Kleidung und Decken oder der Erhalt eines Schlafplatzes in den wenigen Containern des Lagers lässt den Glauben an eine bessere Zukunft, den Durchhaltewillen nochmal kurz aufleuchten. In aller Regel wird er enttäuscht.

Ausblick

Die EU und Griechenland sollten die Ausnahmeregelungen sofort aufheben, die Menschen aus den Hotspots aufs Festland überführen und ihnen humane Lebensbedingungen bieten. Dies forderten zuletzt auch 20 Menschenrechtsorganisationen, darunter Human Rights Watch und Amnesty International. Die auf den Inseln vorgefundenen Bedingungen sind ungeeignet um die anwendbaren völkerrechtlichen Verpflichtungen, insbesondere der adäquate Zugang zur Gesundheitsversorgung, zu Bildung und zum Arbeitsmarkt zu erfüllen. Für eine Verlängerung der Ausnahmesituation auf den griechischen Inseln ist vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die stark gesunkenen Ankunftszahlen kein Raum.

Die EU akzeptiert, dass ihre eigene Verpflichtung auf die Achtung der Menschenwürde, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit hier auf den griechischen Inseln Tag für Tag mehr ausgehöhlt wird. Sie akzeptiert, dass ihr ihre Moral abhandenkommt, ihre Seele. Und so ist das Selfie am Hafen ein zynisches Sinnbild für die Realität der Flüchtlinge in Europa. Es ist ein Verweis auf die enttäuschte Hoffnung nach Normalität und Schutz, die der Flucht aus dem eigenen Land einst inne war.

Jonas Hein ist Rechtsanwalt in Berlin und verbrachte einen Monat auf Samos mit der Refugee Law Clinic Berlin e.V..

Zitiervorschlag:
Hein, Jonas: In der Griechischen Ägäis: Hoffnungslosigkeit im Dauerzustand, RLC Journal (2019) 10.
<https://rlc-journal.org/2019/in-der-griechischen-agais:-hoffnungslosigkeit-im-dauerzustand/>. 


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