Arbeit gegen Asyl – Ein unvollkommener Tausch?
Bedeutende Stimmen aus der deutschen Politik und Wirtschaft stufen den Wechsel von Asylmigration in Richtung Arbeitsmarktmigration als Erfolgsmodell ein, weshalb die befristete West-Balkan Regelung des § 26 Abs. 2 BeschV jüngst bis 2023 verlängert wurde. Gleichwohl sollte aus migrationsrechtlicher und auch aus rechtspolitischer Sicht nicht vernachlässigt werden, inwiefern der Regimewechsel für die Menschen aus und in der Region Probleme und Ungerechtigkeiten birgt.
Offensichtlich scheint zunächst, dass die nachfrageorientierte Erwerbsmigration mit ihrem primären Bezugspunkt der wirtschaftlichen Bedürfnisse des deutschen Arbeitsmarkts keine 1:1 Alternative für das an Einzelschicksalen orientierte Asylrecht sein kann, welches zwar trotz Einführung der West-Balkan Regelung de jure weiterbesteht, aber – wie im ersten Teil dieses Beitrages gezeigt – praktisch entwertet worden ist. Daraus ergeben sich vor allem für die oben genannten vulnerablen Bevölkerungsgruppen und Minderheiten reale Probleme, die in den Staaten des West-Balkans weiterhin strukturell diskriminiert und/oder verfolgt werden, aber ebenso Zugangsschwierigkeiten zum deutschen Arbeitsmarkt haben. Dass es solche Bevölkerungsgruppen gibt, für welche der Tausch „Arbeit gegen Asyl“ nicht funktioniert, zeigt sich aus einem Vergleich zwischen dem durchschnittlichen Qualifikationsstand der früheren Asylbewerber*innen und der heutigen Arbeitsmigrant*innen, welcher sich etwa in einem Bericht des Instituts der deutschen Wirtschaft findet, in dem es heißt, dass „die heutigen Erwerbsmigranten tendenziell (…) viel höher qualifiziert [sind] als die früheren Asyl- suchenden und (…) anderen Bevölkerungsschichten in den Herkunftsländern [angehören].“ Für diese Gruppen führt das geltende Recht dazu, dass sie aufgrund der Regelung über die sicheren Herkunftsstaaten im Regelfall keine asylrechtlichen Schutzgründe mehr haben und diesen gesetzlichen Befund trotz struktureller Benachteiligung in ihren Heimatstaaten im Einzelfall kaum widerlegen können, mangels Wettbewerbsfähigkeit auf dem deutschen Arbeitsmarkt aber auch keine anderweitige Bleibeperspektive mehr besitzen.
Auch gesamtgesellschaftlich ergeben sich durch die deutsche wettbewerbsorientierte Politik der Arbeitsmarktmigration Probleme in den Herkunftsstaaten. Im Vergleich zum attraktiven deutschen Arbeitsmarkt sind die Angebote in den meisten Ländern des westlichen Balkans absolut nicht wettbewerbsfähig. Da sich die Migrationsbewegung insgesamt von tendenziell eher niedrig qualifizierten Asylbewerber*innen in Richtung höher qualifizierter Arbeitsmarktmigrant*innen verschoben hat, fehlen in den Herkunftsländern mittlerweile massenhaft qualifizierte Fachkräfte. Es kommt zum Phänomen des sogenannten „brain-drain“, einer Abwanderung derjenigen Menschen, die zum Wohl der Gesellschaft am meisten beitragen können (und gerade deshalb auch auf dem deutschen Arbeitsmarkt so erfolgreich sind). Die Folgen sind spürbar. So funktionieren etwa Gesundheitssysteme in der Region zunehmend schlechter, was die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf dem Balkan womöglich noch verstärkt hat. Ein systematischer Tausch von Asylrecht gegen Arbeitsmarktmigration ist wohl aus demographischer Sicht – entgegen verheißungsvoller Kommunikationsstrategien, wie sie etwa die Bundesagentur für Arbeit mit einem Abwerbeprogramm für Pflegekräfte Namens „triple-win“ betreibt – nicht für alle Seiten so erfolgreich, wie es die deutschen Wirtschaftsverbände vermuten. Mittlerweile üben auch Politiker*innen in der Region wie z.B. der serbische Präsident Aleksandar Vučić öffentliche Kritik an der deutschen Abwerbementalität. Die deutsche Politik verliert über diese gravierenden Folgen in der Region leider kein Wort.
Probleme in der Umsetzung: Ungleichbehandlungen und Integrationsbremsen innerhalb der West-Balkan Regelung und im Verwaltungsverfahren
Zu den generellen Problemen des Regimewechsels von „Asyl zu Arbeit“ kommen Probleme, die sich aus der konkreten Ausgestaltung der Westbalkan-Regelung in der Beschäftigungsverordnung (BeschV) sowie der Durchführung der entsprechenden Verwaltungsverfahren ergeben.
Dass die Zuwanderungsoptionen für die Menschen des West-Balkans von vorneherein aus ordnungspolitischen Gründen begrenzt sein sollen und gerade nicht jedem Menschen, der eine Arbeit findet, die deutsche Tür offensteht, zeigt sich schon an der seit dem 01. Januar 2021 enthaltenen Obergrenze der zulässigen (Erst-)Zustimmungen der Bundesagentur für Arbeit in § 26 Abs. 2 3 BeschV (25.000 Zustimmungen im Jahr). Dabei ist zum einen schon fragwürdig, ob die vorgenommene Verteilung dieses Kontingents auf die sechs West-Balkan Staaten „gerecht“ gelingen kann, und zum anderen, ob die Bemessung des Kontingents nicht zu einem „Wettrennen“ um den frühesten Antrag bei den Antragsteller*innen und ihren Arbeitgeber*innen führt, sodass die Frage nach dem passenden Arbeitsverhältnis in den Hintergrund gerät (vgl. BR-Drs. 490/1/20, 2). Als integrationsfeindlich muss schließlich die mit der Verlängerung der West-Balkan Regelung eingeführte Regelung des § 26 Abs. 2 S. 5 BeschV betrachtet werden, welche die Anwendung von § 9 BeschV gezielt ausschließt. Aufgrund dieser Norm können ansonsten Menschen, die seit mindestens zwei Jahren versicherungspflichtig beschäftigt sind oder aber seit mindestens drei Jahren einen rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet haben, auch ohne Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit eine neue Arbeitsstelle annehmen, ohne ihren aufenthaltsrechtlichen Status zu verlieren. Damit soll die positive Integrationsleistung der Menschen durch einen Zugewinn an beruflicher Flexibilität und Freiheit honoriert werden. Für andere Drittstaatsangehörige – wie etwa diejenigen aus den verbündeten westlichen Industrienationen, für die gemäß § 26 I BeschV ebenfalls eine qualifikationsunabhängige Arbeitsmarktliberalisierung besteht – gilt § 9 BeschV (BeckOK AuslR/Breidenbach, 30. Ed. 1.7.2021, BeschV § 9 Rn. 1). Warum dieses Privileg Menschen aus dem West-Balkan verwehrt bleiben soll, ist nicht nachvollziehbar und vor dem Hintergrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes aus Art. 3 I GG wohl auch verfassungsrechtlich fragwürdig.
Ein weiteres Problem, welches die West-Balkan-Regelung im Vergleich zu aslyrechtlichen Migrationswegen für die Menschen aus der Region aufwirft, ist der Antragsstau bei der Visaerteilung. Da der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 26 Abs. 2 S. 2 BeschV zwingend vor der Einreise im Herkunftsstaat bei der zuständigen deutschen Auslandsvertretung (Botschaft, Konsulat) zu stellen ist, müssen sich die Menschen zunächst um eine Arbeitsplatzzusage in Deutschland bemühen und warten dann „mit gepackten Koffern“ auf die Bearbeitung ihres Antrags. Angesichts der überwältigenden Zahl der gestellten Anträge und der vergleichsweise geringen Personalkapazitäten in den Botschaften kommt es hier, wie die Bundesregierung einräumt, regelmäßig zu mehrjährigen Wartezeiten, die sich infolge der zusätzlichen Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie noch verlängert haben. Zugleich sind die Personalmittel in den Botschaften vor Ort allenfalls minimal aufgestockt worden. Von Planungssicherheit kann bei derartigen Wartezeiten weder für die Antragsteller*innen noch für die Arbeitgeber*innen, die auf die Besetzung der vakanten Stellen warten, gesprochen werden.
Fazit und Ausblick
An der Idee und Umsetzung der „Westbalkan-Regelung“ durch die deutsche Bundesregierung zeigt sich, dass ein derart radikaler Umschwung der Migrationssteuerung zwar oberflächliche Zahlen und Statistiken verändern kann, dafür aber viele Einbußen einfordert:
Durch die Erklärung zu sicheren Herkunftsstaaten ist es diskriminierten Minderheiten und verfolgten Personen so gut wie unmöglich gemacht worden, in Deutschland humanitären Schutz zu erhalten. Gleichzeitig haben Menschen, die keinen Zugang zu Bildung haben, kaum eine Chance, ein Visum zu erhalten. Aus ihrem Herkunftsstaat ist es ohne Kontakte in Deutschland sehr schwer, sich auf einen Arbeitsplatz zu bewerben. Diejenigen wiederum, die berufliche Qualifikationen haben und dringend in den Westbalkan-Staaten selbst als Fachkräfte benötigt werden, werden von den höheren Gehältern und attraktiveren Arbeitgebern in Deutschland angelockt und können in der Regel ein Visum erhalten. Dadurch reißen sie ein Loch in die sowieso schon brüchige Infrastruktur ihrer Heimatländer. Zuletzt ist die deutsche Bürokratie mit der Visavergabe vor Ort hoffnungslos überfordert und verursacht für viele Menschen aus dem West-Balkan eine Wartezeit voller Ungewissheit und Ruhelosigkeit.
Leider sind die Zahlen und Statistiken jedoch anscheinend das, worauf es der Politik mehr ankommt, da sowohl Konzept und Umsetzung als Erfolg verbucht werden. Es bleibt zu hoffen, dass die aktuelle Regelung bald überarbeitet wird und menschliche Werte für künftige politische Entscheidungen ein höheres Gewicht haben werden. Eine nachhaltige Verbesserung der politischen und wirtschaftlichen Situation aller Menschen des Westlichen Balkans lässt sich wohl ohnehin nicht durch das Angebot von 25.000 „leichten“ Arbeitsplätzen in Deutschland pro Jahr anstoßen. Sollte die Verbesserung der Situation vor Ort wirklich das Ziel sein, böte es sich an, an der schnellen Umsetzung eines anderen Angebotes zu arbeiten, welches die Bundesregierung und die anderen EU-Staaten den Menschen des Westlichen Balkans vor nunmehr fast zwei Jahrzehnten auf einem Gipfel in Thessaloniki in Aussicht gestellt haben: Eine zügige Aufnahme in die Europäische Union.