Der Amtsermittlungsgrundsatz und die Mitwirkungspflicht stehen im asylgerichtlichen Verfahren in einem besonderen Spannungsverhältnis. Dabei ist aus rechtspolitischer Sicht ein Vergleich zur Sozialgerichtsbarkeit und eine Diskussion zur Übertragbarkeit auf die Asylgerichtsbarkeit besonders spannend. Aus den daraus gewonnenen Erkenntnissen lassen sich Rückschlüsse auf die Arbeit der RLCs im Hinblick darauf ziehen, dass eine gute Vorbereitung der Geflüchteten unerlässlich ist.
Im asylgerichtlichen Verfahren besteht ein besonderes Spannungsverhältnis zwischen dem Amtsermittlungsgrundsatz des*der Verwaltungsrichters*in aus § 86 VwGO einerseits sowie der Mitwirkungspflicht des*der Geflüchteten aus § 15 AsylG andererseits. Dabei wird bereits angehenden Richter*innen direkt zum Praxiseinstieg vermittelt, dass § 86 Abs. 3 VwGO grundsätzlich keine umfassende Erörterung aller entscheidungserheblichen Gesichtspunkte abverlangt, wie dies jüngst in der Beilage „Praxiseinsteig“ zur JuS 9/2019 durch die Vorsitzende Richterin am VGH München Frau Dr. Renate Köhler-Rott geschehen ist (ebd., JuS 2019, 948, 950). Köhler-Rott zitiert dabei die ständige Rechtsprechung des BVerwG, das ausführt, dass das Gericht zu Lasten des*r Geflüchteten berücksichtigen könne, dass diese*r unter Verletzung der ihn*sie treffenden Mitwirkungspflicht seine*ihre guten Gründe für seine*ihre Furcht vor politischer Verfolgung nicht in schlüssiger Form vortrage. Insbesondere diene die Hinweispflicht als Ausfluss des Amtsermittlungsgrundsatzes nämlich nicht der Auffüllung von Lücken und Defiziten im Vorbringen des*r Geflüchteten (BVerwG, Beschl. v. 15.08.2003 – 1 PKH 28.03; BVerwG, Beschl. v. 28.12.1999 – 9 B 467/99).
Zu erörtern gilt es aus diesem Grund, ob im Interesse der Geflüchteten, es nicht sachgerecht erscheint, in asylrechtlichen Verfahren eine umfassendere Ermittlungspflicht im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes zu verlangen. Wünschenswert wäre, dass mit einem besonderen Fingerspitzengefühl die Aufarbeitung der Fluchtgeschichte vorgenommen wird, die im Gerichtsverfahren die Beurteilungsgrundlage darstellt. In der Sozialgerichtsbarkeit wird zum Beispiel wegen des Grundsatzes der sog. Klägerfreundlichkeit der dem Verfahren zugrundeliegende Sachverhalt mit dem gewünschten „besonderen Fingerspitzengefühl“ aufgearbeitet.
Amtsermittlungsgrundsatz vs. Mitwirkungspflicht in der Sozialgerichtsbarkeit
Für die Sozialgerichtsbarkeit ist der Amtsermittlungsgrundsatz speziell in § 103 SGG normiert (vgl. den wortgleichen § 86 Abs. 1 VwGO). Inwieweit das Gericht von Amts wegen ermittelt, ist auch hier einzelfallabhängig. Abweichend von der Praxis vor den Verwaltungsgerichten wird jedoch insbesondere aufgrund der Grundrechtsrelevanz verlangt, dass das Gericht vor einer entsprechenden Entscheidung die Beteiligten eindeutig auf die Folgen ihres Verhaltens hinweisen muss (BSG, Urteil vom 02.09.2004 – B 7 AL 88/03 R). Zwar trifft auch hier die Beteiligten eine Mitwirkungspflicht, sodass jene einen konkreten Beitrag zur Sachverhaltsaufklärung leisten müssen, damit die Schlüssigkeit des Vorgebrachten von den Richtern*innen beurteilt werden kann. Jedoch ist allgemein bekannt, dass die Sozialgerichte der Substanziierungspflicht der Kläger*innen zurückhaltender gegenüberstehen als die Verwaltungsgerichte. Insoweit verfolgen die Sozialgerichte den sog. Grundsatz der Klägerfreundlichkeit. Prägend hierfür ist eine niedrige Zugangsschwelle zum Rechtsschutz, um eine größtmögliche Waffengleichheit in Lebensbereichen, die die materielle Existenz der Bürger*innen betreffen, zu schaffen. So soll ein effektiver Rechtsschutz gegen eine hochspezialisierte Verwaltung gewährleistet werden (Müller, Jus 2014, 324, 327).
Diesen Ausführungen zur Einordnung des Amtsermittlungsgrundsatzes im Sozialrecht schließt sich nun die Frage an, ob es nicht aufgrund einer vergleichbaren Interessenlage angemessen ist, das Telos der sozialgerichtlichen Anwendungspraxis auch auf asylgerichtliche Verfahren zu übertragen.
Übertragbarkeit der sozialgerichtlichen Grundsätze auf das asylgerichtliche Verfahren
Im Gegensatz zum Sozialrecht geht es im Asylrecht regelmäßig nicht nur um die Bedrohung der materiellen, sondern sogar der physischen Existenz. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass durch eine negative Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine Abschiebung in den Heimatstaat folgt. Zumindest bei Geflüchteten, die aus berechtigten humanitären Gründen nach Deutschland gekommen sind, kann in diesem Fall eine grundrechtsrelevante Bedrohung der physischen Existenz angenommen werden. Darum ist es unerlässlich, auch im asylgerichtlichen Verfahren eine größtmögliche Waffengleichheit herzustellen, um einen Anerkennungsgrund nicht fehlerhaft zu verkennen.
Eine Vergleichbarkeit zum Sozialrecht lässt sich beim Asylrecht auch durch den hochspezialisierten Verwaltungsapparat von Bund, Ländern und Kommunen (z.B. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF], Auswärtige Amt, Ausländerbehörden) annehmen. Verschärft wird das durch die bestehenden AnKER-Zentren z.B. in Bayern, wo die jeweiligen Behörden direkt angegliedert sind und so durch die fehlende Distanz untereinander wie ein Schweizer Uhrwerk zusammenwirken können. Die dadurch erzeugte Waffenungleichheit wird durch die räumliche Trennung der Geflüchteten von der Gesellschaft verstärkt, wodurch der Zugang zu unabhängigem Rechtsrat enorm erschwert wird. Zwar bietet das BAMF eine Verfahrensberatung an, diese kann jedoch keineswegs als unabhängig bezeichnet werden. Insbesondere erfolgen die Informationen des BAMF anhand von standardisierten Texten abstrakt und generell mit der Folge, dass sie nicht auf den jeweiligen Einzelfall eingehen (Stellungnahme der BRAK). Durch die zeitnahe Durchführung der Anhörung (häufig innerhalb der ersten Woche) nutzt das BAMF seinen Heimvorteil, indem dem*r Geflüchteten keine Gelegenheit gegeben wird, sich über die Abläufe und deren Tragweite ausreichend zu informieren (Pressemeldung des Rechtsausschusses des Bayerischen Landtags).
Weil – wie dargelegt – die Waffengleichheit schon im Verwaltungsverfahren nicht gegeben ist, muss der grundgesetzlich in Art. 19 Abs. 4 garantierte effektive Rechtsschutz bei den Verwaltungsgerichten durch den Grundsatz der Klägerfreundlichkeit ähnlich wie bei der Sozialgerichtsbarkeit gewährleistet werden.
Umsetzung in der asylgerichtlichen Praxis
Was bedeutet das nun in der Praxis? Ein*e Geflüchtete*r stellt zunächst in Deutschland einen Asylantrag. Falls dieser vom BAMF abgelehnt wird, erhebt der*die Geflüchtete Klage gegen den negativen Bescheid. Als Ausprägung des in Art. 19 Abs. 4 GG normierten Grundsatzes des effektiven Rechtsschutzes gegen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt sowie des in Art. 20 Abs. 3 GG normierten Rechtstaatsprinzips soll der Amtsermittlungsgrundsatz sachrichtige Entscheidungen gewährleisten (BeckOK/Breuning VwGO § 86 Rn. 8). Aber gerade in der prekären Situation, in der sich Geflüchtete befinden, wird dieser Amtsermittlungsgrundsatz durch die Mitwirkungspflicht eingeschränkt, sodass von Geflüchteten erwartet wird, dass diese wissen, welches Vorbringen nach dem Gusto deutscher Verwaltungsrichter*innen als schlüssig wahrgenommen wird. Dabei wird insbesondere der kulturelle Unterschied verkannt, den der*die Geflüchtete durch die Abgeschiedenheit von der Gesellschaft im AnKER-Zentrum nicht selbst erleben und deshalb nicht nachvollziehen kann. Zum Beispiel werden in einem Großteil der afrikanischen Kultur Geschichten ereignisbezogen erzählt, wobei Chronologie, Daten, Zeit und Entfernungen eine eher untergeordnete Rolle spielen (Schulungsunterlagen IHK). Ein*e deutsche*r Richter*in wird hingegen eine nicht chronologische Darstellung als nicht schlüssig und lückenhaft empfinden. Auch aus diesem Grund wäre eine Hinweispflicht des*r Richter*in geboten, um eine Ablehnung des Asylgesuches nur wegen unterschiedlicher Darstellungsweisen von Geschichten zu verhindern.
Besonders problematisch wird das Missverhältnis zwischen Amtsermittlungsgrundsatz und Mitwirkungspflicht bei Ereignissen, an die sich der*die Geflüchtete wegen einer (Teil-)Amnesie infolge eines Traumas nicht mehr erinnern kann. Doch auch hier wird verlangt, dass die Ursachen, die das Trauma ausgelöst haben, schlüssig und widerspruchsfrei dargestellt werden. Dabei liegt die Verantwortung wegen der Mitwirkungspflicht bei dem*der Betroffenen (Köhler-Rott, JuS 2019 948, 952; VGH München Beschl. v. 13.12.2018 – 13a ZB 18.33056, Rn. 11; VGH München Beschl. v. 6.9.2018 – 1 ZB 17.30420, Rn. 3; VGH München Beschl. v. 27.3.2018 – 9 ZB 18.30057, Rn. 14).
Aus den hier genannten Aspekten lässt sich eindeutig ableiten, dass in der asylgerichtlichen Praxis ein Umdenken stattfinden muss, um auch hier den Grundsatz der Klägerfreundlichkeit zu implementieren. Dies beinhaltet eine umfassende Ermittlungspflicht, die durch eine Hinweispflicht ergänzt wird, wodurch auf die Folgen des ggf. als unzureichend angesehenen Sachvortrags hingewiesen werden muss.
Bedeutung für die RLCs
Weil de lege lata ein selbstständiges, schlüssiges und lückenloses Vorbringen des*der Geflüchteten gefordert wird, ist ein wichtiger Aufgabenpunkt der RLCs, den*die Geflüchtete*n intensiv und sorgfältig auf die mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht vorzubereiten. Einen schönen Anhaltspunkt bietet beispielsweise der in mehreren Sprachen zugängliche Anhörungsleitfaden der RLC Munich. Hierzu gehört es, neben einer allgemeinen Aufklärung, wie das gerichtliche Verfahren abläuft, die Fluchtgeschichte sowie die Gründe für die Furcht vor politischer und gesellschaftlicher Verfolgung mit dem*r Geflüchteten chronologisch aufzubereiten. Das Vorbringen sollte möglichst detailreich geschildert werden, damit es an Glaubwürdigkeit gewinnt. Insbesondere sollte darauf geachtet werden, dass die Geschichte keine Lücken enthält. Denn wie oben dargelegt, besteht derzeit keine Pflicht der Verwaltungsrichter*innen den*die Geflüchtete*n auf Lücken und Defizite im Vorbringen hinzuweisen, sodass sich hierauf trotz des Amtsermittlungsgrundsatzes nicht verlassen werden kann.
Zitiervorschlag:
Johanson/Knott: Amtsermittlungsgrundsatz vs. Mitwirkungspflicht im asylgerichtlichen Verfahren, RLC Journal (2020) 3.
<https://rlc-journal.org/2020/amtsermittlungsgrundsatz-vs-mitwirkungspflicht/>
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