Quo vadis, Demokratie? Hass und Hetze in Zeiten von Flucht und Migration – Teil I

Erich Kästner, der Zeuge der Verbrennung seiner eigenen Bücher am 10. Mai 1933 auf dem heutigen Berliner Bebelplatz wurde, sprach zum 25. Jahrestag der Bücherverbrennung folgende Worte: „Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf …“.

Vielen vor allem durch seine Kinderbücher bekannt, war Kästner doch auch ein kritischer Intellektueller, der sich für Frieden und Gerechtigkeit einsetzte und dessen Worte gerade heute, wenn auch unter gänzlich anderen Bedingungen, eine genauere Lektüre verdienen. So erleben wir gegenwärtig mit der zunehmenden Diversität in unserer Gesellschaft eine demonstrative Intoleranz und viele völkisch-nationale oder geschichtsrevisionistische Positionen, die vor wenigen Jahren höchstens am rechten Rand der Parteienlandschaft vorstellbar gewesen wären, sind wieder salonfähig geworden. Mit Pegida, AfD & Co werden die Grenzen des Sagbaren verschoben und der Rassismus hat Einzug in den Bundestag gefunden. Um wieder „Recht und Ordnung“ herzustellen, könne notfalls an der Grenze auch auf Geflüchtete geschossen werden, fordern einige AfD-Funktionäre. Die Verwendung einer Sprache in Analogie zur Nazi-Herrschaft und die Verharmlosung des Holocaust sind nur einige Beispiele. Die Neue Rechte sieht sich dabei gerne auch als Opfer der Diktatur der Political Correctness, irgendwo zwischen „das war nicht so gemeint“ und „das wird man wohl noch sagen dürfen“. Ein sachlich konstruktiver Diskurs findet dort, wo beleidigende und undifferenzierte Kommentare im Fokus sind, nicht mehr statt. Es kommt zur Abstumpfung und Abnutzungseffekte führen dazu, dass die Toleranz gegenüber rechtem Gedankengut zunimmt.

Gerade in den sozialen Netzwerken können wir dieses Phänomen sehr gut beobachten: Eine „Wir“ und „die anderen“- Rhetorik, lückenhafte und einseitige Berichterstattung führen zu einem verschwörungstheoretischen Weltbild. Es ist die Rede von der „Islamisierung Europas“, den „Asylschmarotzern“ und die Liste ließe sich noch weiter fortführen. Aber auch jene, die sich gerade für marginalisierte Gruppen und gegen Menschenfeindlichkeit einsetzen, werden durch das Schaffen von Narrativen wie „Volksverräter“ durch die neurechten „Hassprediger“ zur Zielscheibe.

In unserer sich im Wandel befindenden Gesellschaft wollen wir uns am Beispiel des Diskurses zu Migration und Geflüchteten nachstehend folgende Fragen stellen: Hate speech or free speech? Randphänomen oder Zeitgeist? Wie kann entschieden dagegen vorgegangen werden?

Grenzen der Meinungsfreiheit?

Das in Artikel 5 Grundgesetz (GG) garantierte Recht, seine Meinung frei zu äußern, ist Dreh –und Angelpunkt der freiheitlichen Demokratie und „schlechthin konstituierend“ für diese, so das Bundesverfassungsgericht in seiner ständigen Rechtsprechung (BVerfGE, 1 BvR 400/51- Lüth, Rn. 31). Aus diesem Grund ist die Kundgabe bisweilen diametral auseinandergehender Auffassungen im öffentlichen Diskurs essentiell. So lautet auch das Credo des Bundesverfassungsgerichts, dass bei einem Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung die grundsätzliche Vermutung zugunsten der Freiheit der Rede gelte, im Zweifel genießt die Meinungsfreiheit Vorrang. Nach dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sind auch solche Meinungen geschützt, die „verletzen, schockieren oder beunruhigen“- dies seien die „Anforderungen von Pluralismus, Toleranz und Großzügigkeit“ (Appl. No. 5493/ 72- Handyside/ UK, Rn. 49.)

Im Vertrauen auf die „Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien“ gilt die Meinungsfreiheit dabei grundsätzlich auch den „Feinden der Freiheit“ (BVerfGE- 1 BvR 2150/ 08- Wunsiedel, Rn. 50, 67). Die Freiheit der Meinungsäußerung endet aber, wenn nachhaltig und aggressiv kämpferisch die freiheitlich demokratische Ordnung gefährdet wird. Diese Grenze ist Ausdruck der wehrhaften Demokratie und ergibt sich aus einer Verwirkung dieses Grundrechts nach Artikel 18 GG. Einer der prägendsten Köpfe des Parlamentarischen Rates, Carlo Schmid, formulierte dies im Rahmen der Ausarbeitung des Grundgesetzes 1948 folgendermaßen: „daß es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, daß sie selbst die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft. (…) Man muss auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen“. Jener Carlo Schmid, der gemeinsam mit Hermann von Mangoldt, ein Grundrecht auf Asyl im Grundgesetz, entgegen der ursprünglichen Fassung exklusiv nur für Deutsche, als ein solches für „alle“ politisch Verfolgten durchsetzte und somit den Weg zu seiner Geltung als universelles Menschenrecht ebnete.

Als Grenze der Meinungsfreiheit in praxi relevant ist das Phänomen der „hate speech“ bzw. Hassrede. Darunter fallen zunächst ganz allgemein Äußerungen, mit denen gezielt Hass auf Bevölkerungsgruppen aufgrund bestimmter bzw. ihnen zugeschriebener Eigenschaften wie Ethnie, „Rasse“, religiöse Zugehörigkeit, sexuelle Orientierung etc. geschürt wird. Dabei stellt „hate speech“ keinen juristischen Begriff mit einem allgemein verbindlichen spezifischen Tatbestand im Gesetz dar. Auch auf internationaler Ebene fehlt ein dahingehender Konsens- denn zu unterschiedlich ist der Umgang der Staaten mit der Meinungsfreiheit, um dessen Grenzen ganz klar verbindlich umreißen zu können- so ist die Reichweite der Meinungsfreiheit in den USA zum Beispiel viel weiter als in vielen anderen westlichen Demokratien.

In Deutschland führt uns aber die Schrankenregelung der Meinungsfreiheit in Artikel 5 Absatz 2 GG durch die „allgemeinen Gesetze“ ins Strafgesetzbuch (StGB): Bezugspunkt zur „hate speech“ ist hier vor allem der Tatbestand der Volksverhetzung nach § 130 StGB. Anders als bei den Beleidigungsdelikten nach §§ 185 ff. StGB geht es hier nicht um die individuelle Herabwürdigung einer Person, sondern um die kollektive Abwertung gerade wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Folglich macht sich wegen Volksverhetzung nach § 130 StGB strafbar, „Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, (Nr. 1) gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe (…) zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert oder (Nr. 2) die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er eine vorbezeichnete Gruppe (…) beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet.“

Hassrede bzw. Volksverhetzung setzen die Meinungsfreiheit der sich äußernden in ein Spannungsverhältnis mit der Menschenwürde derer, die von den Aussagen betroffen sind. Sowohl die Meinungsfreiheit als auch die Menschenwürde sind konstituierende Elemente unserer Demokratie, weswegen in jedem konkreten Einzelfall beide angemessen austariert werden müssen. Die Grenzen sind dabei fließend. Eine zu weite Einschränkung der Meinungsfreiheit bedeutet genauso eine Demokratiegefährdung, wie umgekehrt, wenn der Hass und die Hetze gegen Minderheiten in einschlägigen Fällen nicht ausreichend geahndet und wenn unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit Grundrechte missbraucht werden. Angesichts des stetig steigenden Hasses und der Hetze im analogen wie auch im digitalen Leben und seiner weitreichenden Folgen für die Demokratie (Stichwort: hate crimes) wird teilweise gar die Frage aufgeworfen, ob ein solcher gesellschaftlicher Wandel auch ein Überdenken der rechtlichen Grenzziehung der Meinungsfreiheit mit sich bringen sollte (vgl. etwa Volkmann). In die Richtung ging jüngst auch der EGMR (Urt. v. 25.10.2018, Appl. No 38450/12- E.S./ Austria) im Zusammenhang mit der Verletzung religiöser Gefühle durch bestimmte Meinungsäußerungen und stellte fest, dass bei der Beurteilung, ob bestimmte Aussagen von der Meinungsfreiheit gedeckt seien, zum Teil auf den Zeitpunkt und den Kontext, wie auch auf die gegenwärtige gesellschaftliche Situation im jeweiligen Land abzustellen sei. Insofern stehe den Mitgliedstaaten bei der Frage, was geeignet sei, den religiösen Frieden im eigenen Land zu stören, ein weiter Beurteilungspielraum zu. Sollte also „analog“ hierzu, gerade angesichts der derzeitigen gesellschaftlichen Situation, Sprache mehr verpflichten? Müssen unsere Staatsanwält*innen und Richter*innen genauer hinschauen?

Hass und Hetze- Randphänomen oder Zeitgeist?

Der Hass im Netz existiert nicht losgelöst vom analogen Leben, sondern greift bestehende Macht- und Diskriminierungsstrukturen auf (vgl. etwa Stefanowitsch). Dieser Hass, der durch die sozialen Netzwerke jetzt an die Oberfläche kommt, ist ein Abbild der offline-Gesellschaft und in der Mitte der Gesellschaft zu finden. Ergebnisse verschiedener Studien besagen, dass etwa 30 % der Bevölkerung (latent) rassistisch eingestellt sei, eine wohl konstante Größe, 30 % seien pro Migration und schließlich 40 % irgendwo dazwischen, d.h. in beide Richtungen mobilisierbar (vgl. etwa Leipziger Mitte Studien).

Was aber genau tun die fortwährenden Agitationen gegen Minderheiten mit diesen? Und was mit der Mehrheitsgesellschaft? In seiner Forschung zeigt der Sozialforscher Henri Tajfel (1986) auf, dass willkürliche Unterscheidungsmerkmale binnen Minuten zu Vorurteilen und Stereotypisierung gegenüber einer „Fremdgruppe“ führen können. Die „Eigengruppe“ (ingroup), jene mit denen man sich identifiziert, grenzt sich durch das eigene starke Gefühl der Zusammengehörigkeit von den „Anderen“, der „Fremdgruppe“ (outgroup) ab. Die Ausgrenzung und Abwertung gegenüber den vermeintlich anderen steigert dabei das Selbstwertgefühl und führt zur Endindividualisierung bzw. Entmenschlichung dieser anderen und senkt somit die Hemmschwelle für Gewalt. Dieses sogenannte „othering“ legt die Grundlage für Feindbilder und Rassismen, wenn die Eigengruppe befürchtet, dass „andere“ Kulturen die eigene bedrohen (vgl. hierzu auch grundlegend Sara Ahmed, 2001: 346). Nicht selten hat „othering“ auch reale Effekte auf hate crimes. Hass und Hetze kann dann in einer politisch aufgeheizten Lage schnell zu Gewalt umschlagen, so auch die Ergebnisse einer Studie der University of Warwick von 2018, welche die unmittelbare Korrelation zwischen Hassrede in sozialen Netzwerken und Vorurteilstaten bzw. hate crimes, nahelegt. Hierfür haben die Forscher Daten der AfD-Facebook-Seite und Statistiken über Angriffe auf Geflüchtete verglichen. Die Ergebnisse sind u.a., dass in Gemeinden, wo es viele aktive Nutzer der AfD-Facebook-Seite gibt, es viermal mehr Angriffe auf Geflüchtete gab als in Gemeinden ohne intensive Nutzung, wenn gleichzeitig auf der AfD-Seite besonders häufig Postings zu Flüchtlingsthemen kursierten.
Auch der NSU handelte nach dem Grundsatz „Taten statt Worte“ (aus der Anklageschrift zum NSU-Verfahren vom 5.11.2012). „Unworte bereiten Untaten den Boden“, so wie es der frühere Bundespräsident Johannes Rau einmal im Jahr 2000 gesagt hat- dies ist übrigens auch das Jahr, wo der NSU mit seiner Mordserie begann. Hat man erst einmal akzeptiert, und sei es auch „nur“ auf sprachlicher Ebene, dass die Würde des Menschen als oberstem Verfassungswert entgegen Artikel 1 GG, der die Würde- ungeachtet der Herkunft, Religion oder sonstiger Eigenschaften- für unantastbar erklärt, disponibel ist, dann gerät unsere Ordnung ins Wanken!


Teil II


Zitiervorschlag:
Şahin, Safiye: Quo vadis, Demokratie? Hass und Hetze in Zeiten von Flucht und Migration – Teil I, RLC Journal (2019) 2.
<https://rlc-journal.org/2019/quo-vadis,-demokratie?-hass-und-hetze-in-zeiten-von-flucht-und-migration—teil-i/>