Noch im Jahr 2018 äußerte sich Bundespräsident Frank Walter Steinmeier zu der Unterscheidung von Fluchtgründen. Er mahnte, wer aus wirtschaftlichen Gründen fliehe, habe nicht die gleichen Rechte wie politisch Verfolgte (Steinmeier, 2018). Dies entspricht der derzeitigen internationalen und nationalen Rechtslage. Die Flucht aus wirtschaftlichen Motiven wird danach nicht als Asylgrund anerkannt. Jedoch stellt sich die Frage, ob eine solch starre Herangehensweise angemessen ist. Der folgende Text widmet sich zunächst der wirtschaftlichen Lage in Marokko, über die derzeit häufig berichtet wird (Janker, 2021; Felschen, 2021). Es soll sich dann mit der Problematik beschäftigt werden, eine gültige Definition der Wirtschaftsflucht zu entwickeln. Hier soll insbesondere die oft negative Konnotation des Begriffs kritisch hinterfragt werden. Sodann soll anhand der wirtschaftlichen Lage in Deutschland ein Fazit gezogen werden, inwiefern diese als Wirtschaftsflüchtlinge gesehen werden und welche Auswirkungen dies rechtlich für die Asylanträge hat. Es folgen zuletzt Vorschläge, anhand welcher Kriterien das Asylrecht die verschiedenen Formen der Wirtschaftsflucht differenzieren sollte.
Die Diskussion über Wirtschaftsflüchtlinge wird derzeit anhand der Berichterstattung und der Situation der Flüchtenden aus Marokko an die spanische Grenze deutlich. Am 17. Mai 2021 hat sich in der marokkanischen Grenzstadt Fnideq die Nachricht verbreitet, dass die spanischen Grenzen in Ceuta geöffnet seien. Diese waren seit Anfang der Corona Pandemie im März 2020 geschlossen. Als Konsequenz machten sich 8.000 Marokkaner*innen auf den Weg nach Ceuta mit der Hoffnung auf bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen (Janker, 2021). Darunter waren schätzungsweise auch 1.000 Minderjährige (Rössler, 2021) .
Die wirtschaftliche Lage in Marokko verdeutlicht die Ambiguität der Wirtschaftsflucht. Marokko gilt als freie Marktwirtschaft. Jedoch ist die Stellung der Königsfamilie sehr hoch. Sie dominiert die Hauptwirtschaftssektoren wie Energie und Landwirtschaft. Der Wettbewerb gilt daher als verzerrt (LIPortal, 2020). Zwar gibt es in Marokko kaum noch Menschen, die in absoluter Armut leben. Dennoch haben rund 50% der ländlichen Bevölkerung nur 3 Dollar pro Tag zur Verfügung. Dies entspricht gerade einmal der Hälfte des gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohns in Marokko (LIPortal, 2020). Dazu gelten 20% der marokkanischen Bevölkerung als von absoluter Armut bedroht (LIPortal, 2020). Die Arbeitslosenquote in Marokko stieg im Jahr 2020 auf 11,9%. Davon sind noch nicht die informellen Sektoren umfasst, in denen die meisten Marokkaner*innen arbeiten (Statista, 2021). Es muss daher von einer deutlich höheren Arbeitslosenquote ausgegangen werden. Zwar hat der marokkanische König Mohammed VI. angekündigt, umfangreiche Reformen hinsichtlich der Sozial- und Arbeitslosenversicherung einzuleiten. Verbesserungen der wirtschaftlichen Lage sind jedoch bisher kaum zu verzeichnen. Vielmehr wird das Entwicklungsprojekt des Königs von Expert*innen als gescheitert angesehen (Borchers, 2019). Die Lage ist inzwischen so prekär, dass die Flüchtenden sich auf riskante Fluchtwege einlassen, um sich und ihrer Familie ein besseres Leben in Europa ermöglichen zu können. Die Flüchtenden, die aus Fnideq nach Ceuta gelangen wollen, müssen eine zwei Kilometer lange Strecke über das Mittelmeer zurücklegen. Im Mai dieses Jahres schwammen die meisten Flüchtenden die Strecke, andere kamen mit Schlauchboten. Oft kamen sie vollkommen erschöpft am Ufer an (Tagesschau, 2021). Die Anstrengungen waren häufig nicht von Erfolg gekennzeichnet. Inzwischen wird berichtet, dass bereits der Großteil der aus Marokko geflüchteten Menschen bereits wieder abgeschoben worden sei. Der Rest werde vermutlich folgen (Schlitt, 2021).
Um determinieren zu können, ob es sich bei marokkanischen Flüchtenden nun um Wirtschaftsflüchtlinge handelt und welche Probleme aus dieser Qualifizierung folgen, muss zunächst gefragt werden, wie diese definiert werden sollen.
Die Sprachwissenschaftler Georg Stötzel und Martin Wengeler gehen so weit, dass sie den Begriff zu den wichtigsten sprachlichen Mitteln der Öffentlichkeit zählen, um „Flüchtlingen die Notwendigkeit zur Flucht abzusprechen und ihnen einen Missbrauch des Asylrechts vorzuwerfen“ (Stötzel/Wengeler, 1995).
Auch wenn der Begriff des Wirtschaftsflüchtlings in Politik und Medien regelmäßig verwendet wird, stellt es eine Herausforderung dar, den Begriff klar zu definieren.
In der Politik wird als Wirtschaftsflüchtling oft derjenige bezeichnet, der nach der Genfer Flüchtlingskonvention keinen Anspruch auf Asyl hat (Bundeskanzleramt Österreich, 2015).
Nach Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention ist als Flüchtling nur derjenige anerkannt, der sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Und auch nach Art. 16a des Grundgesetzes genießen lediglich politisch Verfolgte in Deutschland ein Asylrecht. Die wirtschaftliche Situation eines Menschen als anerkannte Fluchtursache findet auch in § 13 des Asylgesetzes keinen Niederschlag. Dieser regelt den Asylantrag und gewährt ein Antragsrecht ebenfalls nur bei politischer Verfolgung. Wirtschaftsflüchtlinge haben somit weder nach der Genfer Flüchtlingskonvention noch nach dem Grundgesetz ein Recht auf Asyl.
Der Duden definiert den Wirtschaftsflüchtling als einen Geflüchteten, der nicht aus politischen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen sein Land verlässt (Duden, 2021). Diese Definition ist bereits auf den ersten Blick nicht konkret genug und lässt somit zu viel Interpretationsspielraum. Insbesondere können hinsichtlich der wirtschaftlichen Motivation vielschichtige Abgrenzungen getroffen werden. So kann diese aus absoluter Armut heraus erfolgen, aber auch aus dem bloßen Wunsch, die eigene wirtschaftliche Situation in einem wirtschaftlich stärkeren Land zu verbessern. Es gibt bereits einige Bestrebungen, die Flucht aus ersterem Grund als „Elendsflucht“ oder „Armutsflucht“ zu bezeichnen. Dieser Begriff soll nur solche Geflüchtete bezeichnen, die vor der Armut in ihrem Land flüchten (Duden, 2021).
Das größte definitorische Problem stellt wohl die Verflechtung der unterschiedlichen Wanderungsformen dar. Denn häufig hängen die Flucht aus politischen Gründen, die Klimaflucht sowie die Wirtschaftsflucht untrennbar miteinander zusammen. Die Fluchtformen können sich, anders als in der Definition dargelegt, nicht gegenseitig ausschließen. Insbesondere deshalb wurde der Begriff der „gemischten Wanderungen“ entwickelt, der die Komplexität der Zuordnung von Fluchtursachen widerspiegelt (Angenendt/Koch, 2017).
Es scheint somit schier unmöglich, einen Geflüchteten als ausschließlichen Wirtschaftsflüchtling zu bezeichnen, da der Einfluss der wirtschaftlichen Lage auf die Wanderungsentscheidung nur selten isoliert betrachtet werden kann. Auch bei der Flucht aus Afrika nach Europa vermischen sich oft wirtschaftliche Gründe mit Terror, politischer Verfolgung, dem Klimawandel sowie staatlicher Repression.
Die Komplexität, welche aufgrund der Verflechtung der verschiedenen Wanderungsformen gegeben ist, zeigt sich aktuell auch bei den Flüchtlingen aus Marokko, die vor einigen Wochen im spanischen Ceuta ankamen.
So kann anhand der wirtschaftlichen Lage der marokkanischen Flüchtlinge festgestellt werden, dass diese offensichtlich aufgrund der drohenden und bestehenden Armut des Landes fliehen. Diese scheint sich trotz der vielen Ankündigungen des Königs nicht zu verbessern. Demnach können sie sogar unter den engeren Begriff der „Armutsflucht“ zusammengefasst werden. Angesichts der Strapazen, unter denen die marokkanischen Flüchtlinge fliehen, wird einmal mehr klar, dass eine Stigmatisierung von Wirtschaftsflüchtlingen schädlich und unbegründet ist. Die Flucht der Marokanner*innen ist meist keine Suche nach Luxus, sondern die Suche nach einem sicheren Leben ohne die Bedrohung durch Armut. Zusätzlich lassen das politische System und die starke Stellung der marokkanischen Familie keine Hoffnung auf eine Besserung der wirtschaftlichen Lage zu. Es besteht damit auch in Marokko eine Verflechtung der wirtschaftlichen und politischen Lage. Dass marokkanische Flüchtlinge auch in Deutschland als Wirtschaftsflüchtlinge behandelt und demnach die meisten Asylgesuche abgelehnt werden, zeigen auch die Zahlen der erfolgreichen Asylanträge von marokkanischen Geflüchteten: Im Jahr 2019 wurden nur 1,67% der 930 Neuanträge von Marokkaner*innen angenommen (Länderdaten, 2019).
Die 1951 verabschiedete Genfer Flüchtlingskonvention spiegelt die Entwicklungen der Fluchtursachen heute in vielerlei Hinsicht nicht mehr wider. Es stellt zwar eine große Herausforderung dar, die Schutzlücken für bestimmte Gruppen von Geflüchteten zu schließen. Dennoch wäre es wünschenswert, eine Differenzierung des unbestimmten Begriffs der Wirtschaftsflucht vorzunehmen und Kriterien für die neu einzuführenden Begriffe der Elends- oder Armutsflucht einzuführen. Sollten Flüchtlinge als Armutsflüchtlinge qualifiziert werden, könnten diesen dann ebenfalls ein Asylrecht zustehen oder zumindest der Zugang dazu erleichtert werden.
Das größte Anliegen sollte es aber sein, der gesellschaftlichen Stigmatisierung von Flüchtlingen, die aus wirtschaftlichen Motiven fliehen, entgegenzuwirken. Dies ist insbesondere durch einen Wandel hinsichtlich des negativen Gebrauchs des Begriffs „Wirtschaftsflüchtling“ denkbar. Eine Bezeichnung wie die der Armuts- oder Elendsflucht lässt eine negative Konnotation unwahrscheinlicher erscheinen.