Verfasst von Luisa Nabel, Hannah Franz, Anna Gleiser
Mitglieder der Abschiebehaftberatung Hamburg berichten anhand eines fiktiven Falls über ihre Erfahrungen aus der Beratung. Es handelt sich dabei um ein Kooperationsprojekt der Refugee Law Clinic der Universität Hamburg und der Law Clinic an der Bucerius Law School.
Rückblick:
A ist 2015 aus Ghana nach Deutschland gekommen. Nach seiner Ankunft hat er ein Asylverfahren erfolglos durchlaufen, weil Ghana als sicheres Herkunftsland gilt. Auch eine Klage vor dem Verwaltungsgericht hatte keinen Erfolg, sodass er seit 2019 ausreisepflichtig ist. A hat sich seitdem zwei Mal der Abschiebung entzogen.
A wurde in Abschiebehaft genommen. Nach einem Besuch in der Rückführungseinrichtung haben wir zunächst Akteneinsicht beantragt. Nach Gewährung der Akteneinsicht suchen wir nun in der Ausländerakte und in der Gerichtsakte nach Anzeichen, dass die Anordnung der Haft formell rechtswidrig ist.
Aus dem Anhörungsprotokoll ergibt sich, dass A der Haftantrag vor der Verhandlung ausgehändigt und von einer Dolmetscherin übersetzt wurde. Wäre dies nicht der Fall gewesen, läge eine Verletzung des Grundsatzes auf rechtliches Gehör gem. Art. 103 I GG vor (vgl. BGH, Beschluss vom 04.03.2010 – V ZB 222/09 und BGH, Beschluss vom 16.7.2014 – V ZB 80/13).
Aus der Rechnung für die Dolmetschertätigkeit, die sich in der Ausländerakte befindet, lesen wir heraus, dass die Anhörung nur 15 Minuten gedauert hat. Wir fragen uns, wie das Gericht innerhalb von 15 Minuten die 1000 Seiten umfassende Ausländerakte hinreichend würdigen konnte.
Infokasten: Ausländerakte
Die Ausländerakte muss vom Amtsgericht beigezogen werden, da sich aus der Ausländerakte Tatsachen ergeben könnten, die für die Rechtmäßigkeit der Haftanordnung von Bedeutung sind, wie z.B. Hinweise auf Abschiebehindernisse. Die Nichtbeiziehung der Ausländerakte stellt eine Verletzung der verfassungsgemäß verbürgten Freiheitsrechte aus Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG dar (BVerfG, Beschluss v. 14.05.2020 – 2 BvR 2345/16). Wird die Ausländerakte nicht oder nicht vollständig beigezogen und begründet das Amtsgericht nicht, warum die (vollständige) Beiziehung im Einzelfall nicht erforderlich war, ist die Haft rechtswidrig (LG Traunstein, Beschluss v. 16.03.2021 – 4 T 182/21).
Eine solch vorschnelle Anordnung der Haft verwundert uns allerdings nicht:
„Manchmal haben die Richter nur ca. 30 Minuten Zeit, um eine Haft anzuordnen. Ob und wie 30 Minuten für eine vollumfängliche Sachverhaltsaufklärung und Überprüfung der von der Behörde dargelegten Tatsachen ausreichen sollen, ist zweifelhaft. Hinzu kommt, dass es in vielen Amtsgerichten keine konkrete Zuständigkeit für Abschiebehaftsachen gibt, somit also die handelnden Richter keine Expertise auf diesem Gebiet haben.“ – Zitat von Peter Fahlbusch (Anwalt)
Wir halten weithin insbesondere nach Fehlern bei der Anhörung Ausschau. Und tatsächlich: Die Beteiligung eines:r Rechtsanwält:in an der Anhörung wurde durch das Gericht nicht adäquat ermöglicht. Der Anwalt des A, der für das aufenthaltsrechtliche Verfahren zuständig war, wurde erst eine Stunde vor der Anhörung informiert und hatte somit (bei einer reinen Wegzeit von 40 Minuten) keine Chance, der Anhörung beizuwohnen.
Infokasten: Ladung der Anwälte/Grundsatz des fairen Verfahrens
Der Grundsatz des fairen Verfahrens garantiert der oder dem Betroffenen, sich zur Wahrung seiner oder ihrer Rechte in einem Freiheitsentziehungsverfahren von einem:r Bevollmächtigten seiner oder ihrer Wahl vertreten zu lassen. Damit der oder die Bevollmächtigte diese Aufgabe wahrnehmen kann, muss er oder sie auch bei einer Anhörung hinzugezogen und notwendigerweise zuvor zum Termin geladen werden. Kann der oder die Bevollmächtigte mangels Ladung durch das Gericht nicht an der Anhörung teilnehmen oder wird die Teilnahme durch die Verfahrensgestaltung des Gerichts vereitelt, stellt das einen Verstoß gegen das Recht des oder der Betroffenen auf ein faires Verfahren dar. Dieser Verstoß führt zur Rechtswidrigkeit der Haft (BGH, 08.02.2018 – V ZB 92/17). Eine Vereitelung liegt auch dann vor, wenn dem oder der Anwält:in aufgrund einer kurzen Ladungsfrist keine realistische Möglichkeit zur Teilnahme am Termin oder zur Beantragung einer Terminverlegung eingeräumt wird. Auch das führt ohne Weiteres zur Rechtswidrigkeit der Haft (BGH, Beschluss v. 10.11.2020 – XIII ZB 129/19). Stellt sich während der Anhörung heraus, dass der oder die Betroffene eine:n Anwält:in hat, welche:r nicht ordnungsgemäß geladen wurde, ist die Anhörung zu unterbrechen und der oder die Verfahrensbevollmächtigte zu informieren. Kann diese:r kurzfristig nicht an der Anhörung teilnehmen, darf die Haft lediglich vorläufig im Wege einer einstweiligen Anordnung beschlossen werden, § 427 FamFG (BGH, Beschluss v. 25.10.2018 – V ZB 69/18). Das Gleiche gilt, wenn der oder die Betroffene bislang keine:n Anwält:in hatte und erst während der Anhörung erklärt, eine:n hinzuziehen zu wollen (BGH, Beschluss v. 20.05.2020 – XIII ZB 73/19). Unter anderem deswegen ist die ordnungsgemäße Beiziehung der Ausländerakte von hoher Relevanz, denn darin sind oftmals Bevollmächtigte aus dem aufenthaltsrechtlichen Verfahren vermerkt, die sich aus der Gerichtsakte nicht zwangsläufig ergeben (vgl. LG Landshut, Beschluss v. 19.01.2021 – 65 T 887/20, LG Hamburg, Beschluss v. 22.12.2020 – 329 T 3/20, LG Frankfurt am Main, Beschluss v. 13.02.2018 – 2-29 T 36/18).
Somit liegt offensichtlich ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens vor. Auch die mangelnde Beachtung des Beschleunigungsgebots und die unzureichende Berücksichtigung der Ausländerakte rügen wir in unserem Schriftsatz. Weitere Anhaltspunkte für die Rechtswidrigkeit der Haft können wir nicht entdecken, und reichen schließlich die Begründung unseres Haftaufhebungsantrags ein.
5. Die letzten Tage
Während wir auf die Gerichtsentscheidung bzgl. des Haftaufhebungsantrags warten, stehen wir weiter in Kontakt mit A und B. Zur Kommunikation mit A verwenden wir einen Gruppenchat, in dem, wenn nötig, auch ein:e Übersetzer:in mitschreibt.
Wir erhalten eine Nachricht von A, in der er uns mitteilt, dass es ihm nicht gut gehe und er gerne eine:n Ärzt:in sehen möchte. Er habe dieses Anliegen auch bereits bei den Mitarbeitenden der Hafteinrichtung geäußert, jedoch sei er abgewiesen worden, da er keine Symptome habe.
Daraufhin setzen wir ein Schreiben an die Einrichtung auf, in dem wir auf § 11 I HmbAHaftVollzG verweisen, wonach die ärztliche Versorgung sichergestellt werden muss. Die Entscheidung, ob eine ärztliche Begutachtung notwendig ist, kann dabei nicht von diensthabenden Mitarbeitenden, sondern nur von der oder dem Betroffenen persönlich getroffen werden. Am nächsten Tag wird A endlich von einem Arzt begutachtet und erhält daraufhin entsprechende Medikation.
Als der Termin der Abschiebung näher rückt und eine rechtzeitige Entscheidung über unseren Haftaufhebungsantrag immer unwahrscheinlicher wird, kontaktieren wir die Beratungsstelle für freiwillige Rückkehr und informieren uns vorsorglich über mögliche finanzielle Stützen, die A nach der Abschiebung in Anspruch nehmen könnte.
Leider können wir im aufenthaltsrechtlichen Verfahren nicht selbst vor Gericht aktiv werden. Deswegen stehen wir mit dem Anwalt des A aus dem aufenthaltsrechtlichen Verfahren im stetigen Kontakt. Da es sich bei Ghana allerdings um ein sogenanntes sicheres Herkunftsland handelt, sind die rechtlichen Möglichkeiten leider begrenzt, und so scheitert auch der letzte Eilantrag vor dem VG.
In Vorbereitung auf die Abschiebung soll bei A ein Coronatest durchgeführt werden, da nur dann eine Einreise nach Ghana möglich ist. A verweigert sich dem Test und schreibt uns anschließend, dass das Personal ihm gedroht hat, den Test am nächsten Tag unter Anwendung von Zwangsmaßnahmen durchzuführen. Er fragt uns, ob wir irgendetwas dagegen tun können. Auch hier können wir A leider keine erfreuliche Antwort geben, denn die Verwaltungsgerichte haben bislang mehrheitlich entschieden, dass diese Maßnahme zulässig ist (Haufe: Anordnung zwangsweiser Testungen auf das SARS-CoV-2-Virus vor Abschiebungen – eine Bestandsaufnahme (ZAR 2021, 115)). Wir empfehlen A daher, beim morgigen Test keinen Widerstand zu leisten, um wenigstens die Zwangsmaßnahmen zu vermeiden. Widerwillig lässt A auch diese Maßnahme über sich ergehen, in dem Wissen, dass seiner Abschiebung damit nichts mehr entgegensteht.
In den letzten Tagen vor der Abschiebung versuchen wir, A über den Gruppenchat weiterhin so gut es geht emotional zu unterstützen. Die Situation realistisch darzustellen, ohne den Betroffenen in weitere Panik zu versetzen, ist eine große Herausforderung. Ebenso müssen wir darauf achten, selbst eine gesunde Distanz zum Fall zu behalten – dies gelingt nicht immer.
Aus den Nachrichten, die wir von A nun bekommen, wird seine Hoffnungslosigkeit immer deutlicher. Die Frage „Wie geht es dir?“ fühlt sich fehl am Platz und hohl an. Es gibt nichts mehr zu sagen oder zu tun, und so sehen wir dem Tag der Abschiebung machtlos entgegen.
„Der Betroffene hat uns, gerade als der vermutete Abschiebetermin immer näher rückte, vermehrt angerufen und immer wieder betont, dass er auf keinen Fall abgeschoben werden möchte und er doch in Deutschland gearbeitet und Steuern bezahlt habe und seine Tochter hier leben würde. Die Verzweiflung des Betroffenen war deutlich zu spüren und hat mich persönlich sehr bewegt, da mir bewusst war, dass wir die Abschiebung nicht mehr verhindern können. Es war ein Spagat, einerseits dem Betroffenen keine falschen Hoffnungen zu machen und gleichzeitig seine Angst nicht zu verstärken. Ich war schon fast froh, wenn er mich mit einem konkreten und lösbaren Problem angerufen hat, so wurde mir die Hilflosigkeit etwas genommen.“ – Zitat von Elisabeth (Beraterin)
6. Nach der Abschiebung
Da dem Betroffenen während der Abschiebung das Handy abgenommen wird, erfahren wir erst im Nachhinein, wie diese konkret abgelaufen ist. Weil A sich bereits zuvor mehreren Abschiebungen entzogen hatte, wurde er während des ganzen Fluges gefesselt und von einem erhöhten Polizeiaufgebot begleitet. Zum Glück kam es jedoch nicht zu weiteren Zwangsmaßnahmen, die unserer Erfahrung nach nicht selten angewendet werden.
Vorausschauend haben wir bereits beim Haftaufhebungsantrag beantragt, dass das Verfahren im Falle der Entlassung oder der Abschiebung im Wege des Feststellungsverfahrens nach § 62 I 1 FamFG fortgeführt wird. Daher können wir auch nachträglich die Rechtswidrigkeit der Haft vom Gericht bestätigen lassen. Die Fortführung des Verfahrens ist aus mehreren Gründen wichtig: Zum einen muss A die Kosten der Abschiebehaft nicht tragen (BVerwG, Urt. v. 10.12.2014 – 1 C 11/14), wenn die Haft rechtswidrig war (leider bleiben die Kosten der Abschiebung selbst bestehen (OVG Lüneburg 11. Senat, Beschluss vom 23.03.2009, 11 LA 490/07 und Hamburgisches OVG, Urteil vom 03.12.2008 – 5 Bf 259/06), diese können sich insbesondere bei Charterflügen schnell auf hohe fünfstellige bis hin zu sechsstelligen Beträgen belaufen). Zum anderen können wir eine Entschädigung für jeden Tag der rechtswidrigen Inhaftierung ab Stellung des Haftaufhebungs-/Feststellungsantrags einfordern. Darüber hinaus ist die offizielle Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haft für die Betroffenen häufig ein maßgeblicher Schritt, um das Geschehene emotional verarbeiten zu können. Und schließlich ist es besonders wichtig, diese Fälle zu dokumentieren, um mit konkreten Zahlen inakzeptable Lücken im Rechtssystem aufzuzeigen und den Handlungsbedarf im Abschiebehaftverfahren zu verdeutlichen.
Als einige Monate später der positive Beschluss des Amtsgerichts bei uns ankommt, ist die Freude groß und wir beginnen damit, eine angemessene Entschädigung für A durchzusetzen. Allerdings wird diese Freude schnell davon überschattet, dass es zu der rechtswidrigen Haftanordnung gar nicht hätte kommen dürfen.
III) Schluss
Unsere Erfahrungen zeigen, dass die Achtung der Rechte der Betroffenen in vielen Verfahrensschritten von verschiedenen Faktoren abhängig ist: Einerseits vom Zufall und dem Informationsstand der involvierten Richter:innen und Beamt:innen, andererseits davon, ob Betroffene das Glück haben von einer Hilfsorganisation oder fachlich guten Anwält:innen unterstützt zu werden. Zu den größten Schwachpunkten des Systems zählt dabei, dass es keine Pflichtbeiordnung i.S.d. § 140 StPO für die Betroffenen gibt.
Der dargestellten Fall ist fiktiv – viele der beschriebenen Vorfälle basieren allerdings auf unseren persönlichen Erfahrungen und könnten jedem:r Inhaftierten genauso (wieder) wiederfahren. Deswegen machen wir von der Abschiebehaftberatung es uns zur Aufgabe, diesen Menschen Gehör zur verschaffen, ihnen bei der Geltendmachung ihrer Rechte zu helfen und sie auf ihrem Weg zu unterstützen.