Fortsetzung von TEIL I
Heute empören wir uns zwar über die AfD, aber diese Diskurse, wenn auch in einer eher subtileren Weise, kennen wir teilweise auch schon von den etablierten Parteien. Gerade kurz vor den Wahlen wird dann auf dem Rücken von Geflüchteten und Minderheiten um jede einzelne Stimme gekämpft.
Oder der Fall Sarrazin: Das Buch des ehemaligen Berliner Finanzsenators und noch SPD-Mitglieds, der die Überlegenheit des Eigenen genetisch festschrieb und den Muslimen jede Kompetenz zur Integration absprach und ihnen bloß die Fähigkeit zum „produzieren“ von „Kopftuchmädchen“ zusprach, fand großen Zuspruch in großen Teilen der Gesellschaft und wurde 2010 zum größten aller Bucherfolge der gesamten deutschen Nachkriegsgeschichte. Strafrechtliche Anzeigen wegen Volksverhetzung gegen Sarrazin´s Aussagen im Rahmen eines Interviews in der Lettre International blieben, mit der Begründung seitens der Staatsanwaltschaft, dass die Aussagen noch von der Meinungsfreiheit gedeckt seien, folgenlos. Zivilgesellschaftliche Organisationen rügten daraufhin beim UN-Antirassismus-Ausschuss, dass Deutschland seine staatlichen Schutzpflichten aus der UN-Anti-Rassismus Konvention (CERD), nach dessen Artikel 4 a) u.a. die Verbreitung von rassistischen Ideen unter Strafe zu stellen und nach Artikel 6 effektiver Rechtsschutz hiergegen zu gewähren ist, verletzt hätte. Der UN-Ausschuss gab der Beschwerde statt und bewertete die Äußerungen Sarrrazin´s als ganz klar rassistisch (Communication No. 48/ 2010, 26.2.2013, S. 18). Gerügt wurde also, dass von vornherein ein solches Verhalten überhaupt nicht als rassistisch und strafrechtlich relevant eingestuft wurde- mit der Folge der fehlenden Sanktion.
Die Entscheidung des UN-Ausschusses wirft viele grundlegende Fragen auf, u.a. die Frage, wann Rassismus überhaupt einschlägig ist und die Rolle der Meinungsfreiheit im Bestreben gegen Rassismus vorzugehen. Diese Praxis der Ermittlungsbehörden im Fall Sarrazin und ähnlichen Fällen ist auf das enge Verständnis von Rassismus im deutschen Rechtsdiskurs zurückzuführen. Auch die Kritik an der Entscheidung des UN-Ausschusses gibt Ausschluss über dieses vorherrschende enge Rassismusverständnis. Unter anderem wurde an der Entscheidung des UN-Anti-Rassismus-Ausschusses beanstandet, dass es sich bei den „Türken“ ja nicht um eine „Rasse“ handele (vgl. Tomuschat, 2013: 264). Rassismus, welcher häufig unter Bezugnahme auf Merkmale wie „Kultur“ oder „Religion“ begründet wird, setzt aber nicht voraus, dass Menschen dabei begrifflich nach unterschiedlichen „Rassen“ eingeteilt werden (vgl. Cremer, 2017: 92). Da es zudem keine menschlichen „Rassen“ gibt, es sich dabei vielmehr um ein soziales Konstrukt handelt, greift die Kritik zu kurz und impliziert ein mangelndes Verständnis betreffend Sinn und Zweck der UN-Konvention.
Zugleich wird Rassismus externalisiert: In die Vergangenheit und an sog. rechtsextreme Ränder der Gesellschaft. Diese Muster der Reduktion und Externalisierung von Rassismus führen dabei zur paradoxen Distanzierung vom Rassismus: Es gilt einerseits als das Extreme, als Skandal und Eklat- das macht seine Thematisierung moralisch hochgradig aufgeladen, gleichzeitig aber auch fast unmöglich (vgl. Liebscher, 2017: 92). Und genau das ist das Dilemma, in dem wir uns befinden, angesichts der Auswirkungen auf unsere Gesellschaft und das friedliche Zusammenleben (grundlegend hierzu Sara Ahmed, 2001: 363- sie führt in ihren Erläuterungen zur Hasskriminalität die „affektive Ökonomie des Hasses“ an, womit sie auf die verletzenden Affekte und strukturellen Dimensionen von hate speech hinweisen möchte; siehe auch Kimberlé Crenshaw (u.a), 1993, „words that wound“).
Organisierter Hass im Netz und das NetzDG
Die Studie „Hass auf Knopfdruck“ des Londoner Instituts for Strategic Dialogue (ISD) und der Aktionsgruppe gegen hate speech #ichbinhier zeigt in seiner im Zeitraum von Februar 2017- Februar 2018 durchgeführten Analyse das gravierende Ausmaß organisierter rechtsextremer Hasskampagnen im Netz, koordiniert v.a. von AfD- Sympathisanten und aus „identitären Kreisen“, auf. Danach generieren nur fünf Prozent aller Accounts 50 Prozent der Likes bei Hasskommentaren in den sozialen Medien. Durch bewusst gesteuerte Fehlinformationen und die Entwertung von Menschen sollen scheinbare Mehrheiten im Netz erzeugt werden, die sich auf die Meinungsbildung manipulierend auswirken, um so auch Wahlergebnisse zu Gunsten der AfD zu beeinflussen.
Der Gesetzgeber hat reagiert und das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) ins Leben gerufen, welches seit Anfang 2018 der Verbesserung der Rechtsdurchsetzung gegen Hass und Hetze in sozialen Netzwerken dienen soll. Demnach sind Betreiber mit mehr als zwei Millionen Nutzern wie Facebook, Twitter, YouTube und Co verpflichtet, offensichtlich rechtswidrige Inhalte nach Kenntnisnahme innerhalb von 24 Stunden zu löschen. In Grau-Zonen, wo es zum Beispiel auch auf den Kontext der Äußerung ankommen kann, haben die Verantwortlichen eine Woche Zeit. Eine Zuwiderhandlung stellt eine Ordnungswidrigkeit dar und den Betreibern drohen je nach Verstoß Bußgelder bis zu einer Höhe von fünf Millionen Euro, wenn wiederholt und systematisch Inhalte nicht gelöscht werden. Wird mit diesem Gesetz das staatliche Gewaltmonopol für die Rechtsdurchsetzung abgegeben und werden die sozialen Netzwerke damit zu den neuen Richtern? Im Grunde sind soziale Plattformen durch bestimmte Regularien schon immer verpflichtet gewesen gegen „hate speech“ vorzugehen. Die Geltendmachung stieß jedoch, auch bei offensichtlichen Persönlichkeitsverletzungen, selten auf Resonanz, beriefen sich die Betreiber häufig darauf, dass ihr Hauptsitz in den USA liegt. Nunmehr müssen soziale Netzwerke mit dem NetzDG einen Ansprechpartner benennen, an den sich Behörden, Justiz aber auch Privatpersonen richten können, wenn sie zum Beispiel eine Abmahnung, einen behördlichen Bescheid oder eine Klageschrift zustellen wollen. Darüber hinaus kann man jetzt mit Hilfe eines richterlichen Beschlusses einen Auskunftsanspruch gegen die sozialen Netzwerke über alle Daten des sich Äußernden geltend machen, so dass sich niemand mehr hinter der Anonymität des Internets verstecken kann. Mit dem Gesetz hat sich also das Prozessrisiko für Unterlassungs- und/ oder Entschädigungsansprüche zu Gunsten des Verletzten verschoben.
Um den wichtigen Pfeilern der Demokratie, der Meinungsfreiheit auf der einen und der Menschenwürde auf der anderen Seite, gleichsam gerecht werden zu können und zugleich einem Missbrauch vorzubeugen, ist ein sorgsamer Umgang mit dem Gesetz seitens der Betreiber erforderlich. Ein sorgsamer Umgang darf aber mit Blick auf die Bedeutung der Meinungsfreiheit nicht darin resultieren, dass die Betreiber aus Angst vor Sanktionen zu großzügig und undifferenziert Kommentare löschen. Der Gesetzgeber könnte hier- um dieser Gefahr präventiv entgegenzuwirken– durch Nachbesserungen im NetzDG Schutzmechanismen implementieren. Durch das Einrichten von unabhängigen Prüfverfahren betreffend das Löschverhalten der Betreiber zum Beispiel könnte im Ergebnis sowohl ein over- als auch underblocking verhindert werden.
Die Studie „Hass auf Knopfdruck“ zeigt auf, dass explizit rassistische, antimuslimische und antisemitische Posts seit dem Inkrafttreten des NetzDG zwar abgenommen haben, aber koordinierte rechtsextreme Online-Hasskampagnen seit Dezember 2017 im Schnitt mehr als dreimal so weit verbreitet sind (ca. 300.000 Posts/ Monat) wie in den zehn vorangegangen Monaten (ca. 90.000 Posts/ Monat). Dies zeigt, dass organisierte rechtsextreme Strukturen sich auch Gedanken machen und versuchen strategisch unbescholten weiter provozieren zu können.
Mehr Demokratie wagen
Gesetze wie das NetzDG können zu einem gewissen Grad hilfreich gegen Hass und Hetze sein, nicht zuletzt müssen aber staatliche Institutionen wie der Verfassungsschutz, Strafverfolgungsbehörden und die Justiz beim Kampf gegen Rassismus und extremistische Strukturen rassismussensibler agieren und v.a. auch die sozialen Netzwerke mehr in den Fokus nehmen und ggf. konsequent gegen Organisationen eingreifen, die für den organisierten Hass verantwortlich sind (vgl. Studie „Hass auf Knopfdruck“, S.26).
Andererseits ist auch die Zivilgesellschaft in der Pflicht diese Vielfalt als eine Chance für ein „neues deutsches Wir“ zu begreifen und zu leben. Das kann – und wird – zu Reibungen führen, aber die Begegnungen und der Austausch unter allen Gruppen unserer Gesellschaft sind essentiell, um jene in der Grauzone, die sowohl für als auch gegen Rassismus und Intoleranz mobilisiert werden können, nicht der AfD zu überlassen. In demokratischen Gesellschaften, die von einem Konsens der Gleichwertigkeit aller Menschen abhängen, kann selbstverständlich nicht über die Würde des Menschen diskutiert werden. Aber solange diese rote Linie nicht überschritten wird, ist es elementar selbst aus der eigenen Filterblase rauszukommen und antidemokratischen Vorstellungen sowohl offline als auch online argumentativ durch counter-speech entgegentreten, wie z.B. durch Aktionen der Gruppe #ichbinhier. Konzentrierte rechtsextreme Aktionen müssen frühzeitig erkannt werden, so dass Gegenmaßnahmen ergriffen werden können. Hier sind Medien und die Zivilgesellschaft in der Pflicht, über das strategische Setzen von Meinungs- und Deutungshoheiten die Bevölkerung umfassend aufzuklären und zu sensibilisieren. Dasselbe gilt für die weiteren Mitgliedstaaten der EU- einer Union, in der heute die Wiederbesinnung auf die eigene Nation auf dem gesamten europäischen Kontinent eine Renaissance erlebt.
Eine starke Erinnerungskultur fern von Relativierungen ist wichtig- so auch Aleida Assmann, bekannt durch ihre Forschung zur Erinnerungskultur- weil, auch wenn es äußert unwahrscheinlich sei, dass sich etwas wie der Holocaust wiederhole, sich einige historische Phänomene, angepasst an die heutige Zeit doch wiederholen. Politische Bildung habe dabei die Aufgabe, in der Gegenwart solche neuen Varianten alter Muster aufzuzeigen. Nach Assmann, die genau zum richtigen Zeitpunkt symbolträchtig 2018 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, halte Gedenken die wichtige Einsicht wach, dass die Werte der Zivilgesellschaft stets prekär sind und alles andere als ein sicheres Gut (Assmann, 2015: 97).
Wir müssen mehr Demokratie und Vielfalt wagen, damit dem Hass ein Ende gesetzt wird und damit dieser sich nicht in den Strukturen unserer Gesellschaft und in unseren Institutionen festsetzt, damit Menschen, die vielleicht nicht „deutsch-deutsch“ sind, eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft auf Augenhöhe nicht erschwert oder gar unmöglich gemacht wird.
Fakt ist: Migration gehört zur Geschichte Deutschlands und somit zu der Identität unseres Landes. Migration ist eine Kraft der Pluralisierung und Demokratisierung unserer Gesellschaft und unser gemeinsames vielfältiges Deutschland sollten wir uns nicht von irgendwelchen Rechten absprechen lassen.
References
Ahmed, Sara, „The Organisation of Hate, in Law and Critique“, (11) 2001, 345, 363.
Assmann, Aleida, „Die Philosophie und der Nationalsozialismus“, Philosophie Magazin Sonderausgabe 2015, S. 97.
Cremer, Hendrik, „Verbreitung rassistischen Gedankenguts- Die Meinungsfreiheit hat Grenzen“, erschienen in: Grenzen im politischen Meinungskampf. Zum Verbot rassistisch-diskriminierender Wahlkampganen, 2017, Deutsches Institut für Menschenrechte, S. 92.
Crenshaw, Kimberlé, Matsuda, Mari J. (…), „Words That Wound: Critical Race Theory, Assaultive Speech, And The First Amendment“, 1993.
Liebscher, Doris, „Der NSU-Komplex vor Gericht“, in: Den NSU Komplex analysieren, aktuelle Perspektiven aus der Wissenschaft, Juliane Karakayali/ Cagri Kahveci, Doris Liebscher, Carl Melchers (Hg.), 2017, S. 92.
Stefanowitsch, Anatol, „Was ist überhaupt Hate Speech?“ in : „Geh sterben!“, Umgang mit Hate Speech und Kommentaren im Internet, Amadeu Antonio Stiftung, S. 13; https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/hatespeech.pdf.
Tajfel, Henri, Turner, John, „The Social Identity Theory of Intergroup Behavior. Psychology of Intergroup Relations“, 1986.
Tomuschat, Christian, „Der Fall Sarazzin“ vor dem UN-Antirassismusausschuss“, Europäische Grundrechte Zeitschrift, 2013, S. 264.
Volkmann, Uwe, „Die Causa Böhmermann: Ein Tiefpunkt und noch ein Tiefpunkt und noch ein Tiefpunkt“, Verfassungsblog, 22. 4. 2016; https://verfassungsblog.de/die-causa-boehmermann-ein-tiefpunkt-und-noch-ein-tiefpunkt-und-noch-ein-tiefpunkt/.
UN Committee on the Elimination of Racial Discrimination, Communication No. 48/ 2010, 26.2.2013, S. 18; https://www2.ohchr.org/English/bodies/cerd/docs/CERD-C-82-D-48-2010-English.pdf.
Anklageschrift zum NSU-Verfahren vom 5. November 2012.
Kästner, Erich, Rede auf der Tagung des PEN Deutschland anlässlich des 25. Jahrestages der Bücherverbrennung, 10. Mai. 1958 Hamburg.
Rau, Johannes, Berliner Rede, „Ohne Angst und ohne Träumereien: Gemeinsam in Deutschland leben“, 12. Mai 2000.
Schmid, Carlo, „Was heißt eigentlich Grundgesetz?“ Abgeordnetenrede vor dem Parlamentarischen Rat am 8.9.1948.
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„Fanning the Flames of Hate: Social Media and Hate Crime“- University of Warwick, 2018; https://warwick.ac.uk/fac/soc/economics/staff/crschwarz/fanning-flames-hate.pdf.
„Hass auf Knopfdruck“, Rechtsextreme Trollfabriken und das Ökosystem koordinierter Hasskampagnen im Netz, Studie des Londoner Instituts for Strategic Dialogue (ISD) und der Aktionsgruppe #ichbinhier, S. 8, 13, 15, 16, 25; https://www.isdglobal.org/wp-content/uploads/2018/07/ISD_Ich_Bin_Hier_2.pdf.
For further reading
Barskanmaz, Cengiz, „UN-Ausschuss (CERD): Sarrazins Aussagen sind rassistisch“, VerfBlog, 2013/4/18, https://verfassungsblog.de/un-ausschuss-cerd-sarrazins-aussagen-sind-rassistisch/.
Bruce-Jones, Eddie, „Race in the Shadow of Law: State Violence in Contemporary Europe“, 2017 https://www.law.ox.ac.uk/research-subject-groups/centre-criminology/centreborder-criminologies/blog/2017/01/race-shadow-law .
Payandeh, Mehrdad, „Die Entscheidung des UN-Ausschusses gegen Rassendiskriminierung im Fall Sarrazin“, in Juristische Zeitung, 2013, 980 ff
Zitiervorschlag:
Şahin, Safiye: Quo vadis, Demokratie? Hass und Hetze in Zeiten von Flucht und Migration – Teil II, RLC Journal (2019) 6.
<https://rlc-journal.org/2019/interview-mit-christian-thonnes> .