Ein Aufruf zur Verlagerung des Fokus

Als Refugee Law Clinic (RLC) ist es naheliegend, dass wir Refugee Law machen, also die internationalen und nationalen Gesetze zur rechtlichen Stellung von Flüchtlingen.

Doch ich denke die meisten Berater und Übersetzer der RLC Berlin würden mir zustimmen, dass nicht nur Menschen mit Flüchtlingsstatus, oder sogar nur mit Fragen über den Flüchtlingsstatus zu ihnen in die Beratung kommen. Schließlich ist der Asylprozess in der Realität untrennbar von den damit verbundenen Lebensumständen, wie Sozialleistungen, Wohnsitzauflagen, Zusammenführung von Familienangehörigen, die in einer anderen Stadt oder Unterkunft registriert sind etc..

Denn wenn ein Mensch auf der Flucht einen Mitgliedsstaat der EU betritt, ist er dem juristischen Machtgebilde des Staates untergeordnet, wodurch seine Rechte und Pflichten als “Nicht-Staatsbürger” reguliert werden (Butler 2007: 9-10). Wenn ein Aufenthaltstitel vergeben wird, legt der neue Titel die zukünftigen Rechte und Pflichten der Person fest, wobei es neben dem Flüchtlingsstatus noch eine Reihe anderer Rechtsgründe für einen Aufenthaltstitel gibt (Classen 2017: 48).

Parallel zu dieser rechtlichen Bedeutung entwickelt sich im öffentlichen Verständnis eine versetzte (aber dennoch verbundene) Konstruktion einer imaginierten sozialen Gruppe.

Diese abstrakte Gruppe von Gemeinten wurde in den 80ern und 90ern als „Asylanten“ bezeichnet, später (und vor allem ab 2015) als “Flüchtlinge”, dann als “Geflüchtete” und noch korrekter: “Menschen mit Fluchterfahrung”. Dabei ist zu beachten, dass „Asylant“ jeden bezeichnet, der „um Asyl nachsucht“ oder „der Asylrecht beansprucht“ und so eine ganz andere Anzahl von Menschen betrifft als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention, was wiederum keineswegs dasselbe ist wie alle Menschen mit Fluchterfahrung, worunter beispielsweise auch abgelehnte Asylantragsteller fallen würden. Und dennoch lösen sich diese Begriffe im alltäglichen, medialen Gebrauch gegenseitig ab, um dieselbe abstrakte Gruppe zu beschreiben. Mittlerweile wird der Begriff “Flüchtling” in den Medien sowie in der Alltagssprache meistens zumindest mit “Asylsuchender” und in vielen Fällen sogar mit “Migrant” gleichgesetzt.

Und selbst unter denjenigen, die über denselben Aufenthaltstitel verfügen, – manche seit einem Tag, andere schon seit Jahrzehnten – treffen wir auf Menschen aus Russland wie aus Eritrea, Stadtbevölkerung wie Landbevölkerung, Wissenschaftler, Musiker oder Bauern. Demnach ist selbst die korrekte Bezeichnung des Aufenthaltstitels als beschreibende Eigenschaft für eine soziale Gruppe nicht nützlich.

John Austin beschreibt in seinem Werk „how to DO things with words“ den speech act, einen Sprechakt, mit dem wir nicht nur etwas sagen, sondern auch etwas tun (Austin 1955: 1ff). Jacques Derrida und Judith Butler bauen darauf auf, dass der wiederholte Diskurs zu einem Thema, das Besprochene selbst produzieren und regulieren würde (Mahmood 2005: 19). Die juristischen Begriffe werden durch ihre wiederholte Nutzung in diesem Kontext mit einer veränderten Bedeutung als Begriff neu konstruiert.

Der so konstruierten Gruppe wird dabei eine bestimmte Rolle auferlegt, ihr werden bestimmte imaginäre Eigenschaften zugewiesen, mögliche Beziehungen zu dieser neuen sozialen Gruppe aufgestellt, wodurch ihr nicht zuletzt eine zentrale Stellung in der politischen Auseinandersetzung zwischen links und rechts auferlegt wurde.

Die Art und Weise wie der Diskurs geführt wird erschöpft nicht nur unsere Kapazitäten über das Thema zu sprechen, sondern verschleiert teilweise auch die Problematik und lenkt uns davon ab, wichtige Fragen zu stellen. Denn eine Diskursanreizung bringt gleichzeitig eine Diskursverknappung mit sich (vgl. Amir-Moazami, 2017: 22, 31).

Denn ob es einem gefällt oder nicht – Recht auf Asyl und Flüchtlingsschutz sind im Grundgesetz und in internationalen Abkommen festgehalten, denen EU-Staaten verpflichtet sind. Und dennoch lassen sich immer wieder Szenarien erkennen, in denen Europäisches Recht umgangen wird. Dazu gehören die Bemühungen, Menschen mit oder ohne Anspruch auf Asyl von der Ankunft in Europa aufzuhalten, aber genauso die unhaltbaren Bedingungen in den Hotspots auf griechischen Inseln, unter denen Schutzsuchende gezwungen sind (teilweise jahrelang) zu leben, oder auch fehlerhafte Asylbescheide.

Zunächst möchte ich die Signifikanz davon betonen, dass bestehende Gesetze in einem Rechtsstaat tatsächlich eingehalten werden. Schließlich ist es das Gesetz und seine Befolgung, welches uns von der Herrschaft der Willkür schützt, und seine Einhaltung ist demnach unser wertvollstes und wichtigstes Gut. Dazu gehört auch, dass es befolgt wird, unabhängig davon, ob die betroffene Person sich über ihre Rechte oder darüber, wie sie diese einfordern kann, bewusst ist.

Gleichzeitig ist es auch wichtig verstehen zu können, welche unterschiedlichen Folgen bestimmte Gesetze mit sich bringen, die teilweise gewollt, teilweise jedoch auch ungewollt sind, um eine nachhaltige Rechtslage schaffen zu können.

Ich unterstütze also eine Verlagerung des Fokus’, weg von einer abstrakten Vorstellung einer lose definierten Gruppe, hin zu wichtigeren Fragen: Was sagt das aktuelle Refugee Law? Wie wird es umgesetzt? Was sind seine Auswirkungen? Und wie kann jedem der Zugang zum Recht gewährt werden?

Und wer sich mit mir diesen Fragen stellen will – ich bin für Eure Ideen, Erfahrungen und Perspektiven dankbar.


Literatur

Amir-Moazami, Schirin. 2017. Dämonisierung und Einverleibung: Die ‚muslimische Frage‘ in Europa. In: Paul Mecheril und Maria do Mar Castro Verela, Hg. 21-42. Bielefeld: transcript.

„Asylant“ auf Duden online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Asylant (Abrufdatum: 28.10.2018)

Butler, Judith und Gayatri Chakravorty Spivak. 2007. Sprache, Politik, Zugehörigkeit. Zürich, Berlin: Diaphanes.

Classen, Georg. 2017. Ratgeber für Geflüchtete in Berlin. Berlin: Flüchtlingsrat Berlin.

Edwards, Alice. 2005. Human Rights, Refugees, and The Right ‘To Enjoy’ Asylum. Oxford: Oxford University Press.

Herker, Simon. 2018. Report Nr. 3 #ZugangzumRecht: Qualitätsverlust im Asylverfahren durch mangelnde Anhörungsvorbereitung. https://rlc-deutschland.de/report-nr-3-zugangzumrecht-qualitaetsverlust-im-asylverfahren-durch-mangelnde-anhoerungsvorbereitung/. (20.08.2018).

Mahmood, Saba. 2005. Politics of Piety: The Islamic Revival and the Feminist Subject. Princeton: Princeton University Press.

RLC Berlin. 2018. https://docs.wixstatic.com/ugd/f4ef1a_635ff8c660da4018b29e30850156335f.pdf (Abrufdatum: 07.01.2018)


Zitiervorschlag:
Bucher, Setare: Ein Aufruf zur Verlagerung des Fokus, RLC Journal (2019) 1.
<https://rlc-journal.org/2019/ein-aufruf-zur-verlagerung-des-fokus>