– oder warum elf Fälle den Rechtsstaat gefährden –
Seit einigen Jahren wird das Migrationsrecht zunehmend genutzt, um gesellschaftspolitische Grundpositionen zu verhandeln. Diese Stellvertreterkonflikte nahmen über die Jahre die unterschiedlichen Formen tagespolitischer Debatten an – von Sozialleistungen, über den individualschützenden Charakter des Asylrechts, das Zusammenleben mit Menschen anderer Kulturen, bis hin zu Fragen globaler Gerechtigkeit und Verantwortung. Im Sommer 2018 schwenkte der tagespolitische Scheinwerfer auf einen Vorschlag des Bundesinnenministers: Zurückweisungen an den deutschen Grenzen.
Asylsuchenden, die bereits in einem anderen Mitgliedstaat der EU registriert wurden, sollte die Einreise ohne Prüfung der Zuständigkeit Deutschlands für ein Asylverfahren verweigert werden. Um einer Kollision mit dem Europarecht zuvorzukommen, plante die Koalition aus CDU/CSU und SPD eine Umsetzung der Zurückweisungen über bilaterale Verwaltungsabkommen und die Ausweitung der sogenannten Fiktion der Nichteinreise. Im März 2019 wurde bekannt, dass die neue Praxis seit ihrer Einführung insgesamt nur elf Fälle betraf. Eine Entwarnung also? Handelte es sich um einen Sturm im Wasserglas? Im Folgenden wird dargelegt, warum die geringe Fallzahl möglicherweise eine größere Gefahr für den Rechtsstaat bedeutet, als die flächendeckende Einführung von Zurückweisungen.
Europarechtliche Grenzen: Die korrekte Anwendung der Dublin-Kriterien
In Deutschland ist das Asylrecht keine rein nationale Angelegenheit. Es existiert in einer komplexen Überlagerung von nationalem Recht, Europarecht und Völkerrecht. So ist zunächst festzuhalten, dass nationales Recht – auch das Grundgesetz – dem Anwendungsvorrang des Europarechts weichen muss, wodurch insbesondere Art. 16a Abs. 2 GG in der Zurückweisungsdebatte kaum Relevanz hat. Die völkerrechtliche Rechtswidrigkeit von unmittelbaren Zurückweisungen ergibt sich u.a. aus Artikel 3 EMRK, Art. 4 Protokoll IV EMRK, sowie Art. 33 GFK und wurde an anderer Stelle zutreffend analysiert (s. Farahat/Markard, 2018; Endres de Oliveira/Schmalz, 2018). Diskutiert wird ebenso die Rechtmäßigkeit der für Zurückweisungen notwendigen Binnengrenzkontrollen aufgrund des Schengener Grenzkodexes (s. Hruschka, 2018). Nachfolgend wird die Kollision von Zurückweisungen mit den Vorgaben der Dublin-III-Verordnung in den Vordergrund gestellt.
In der Dublin-III-Verordnung – welche die Zuständigkeiten für die Durchführung eines Asylverfahrens in Europa regelt – vereinen sich zwei maßgebliche Ziele: „no refugees in orbit“ und „one state only“. Ersteres bedeutet, dass die Mitgliedstaaten die Zuständigkeit für die Verfahrensdurchführung nur dann von sich weisen dürfen, wenn sie positiv auf die Zuständigkeit eines anderen Staates verweisen können (Bast/Möllers, 2016). Durch dieses Prinzip soll verhindert werden, dass die Staaten jeweils die Verfahrenszuständigkeiten von sich weisen und Schutzsuchende keinen effektiven Zugang zu einem Verfahren erlangen. Letzteres Ziel besagt, dass Schutzsuchende lediglich ein materielles Asylverfahren bekommen, welches von nur einem Staat geprüft wird.
Welcher Staat im jeweiligen Einzelfall die Prüfung durchführen muss, ergibt sich aus einem komplexen Zuständigkeitskatalog der Dublin-III-Verordnung selbst. So kann diese Zuständigkeitsprüfung keinesfalls auf das – medial viel zitierte – „first entry“ Kriterium reduziert werden, nach dem für ein Verfahren der Staat zuständig ist, in dem der Schutzsuchende erstmals die EU betreten hat (Art. 13 Dublin-III-VO). Vorrangig zu prüfen ist nach Art. 7 Dublin-III-Verordnung nämlich, ob es sich um unbegleitete Minderjährige handelt (Art. 8), eine Dublin-Familienzusammenführung möglich ist (Art. 9-11) oder ob ein Visum vergeben wurde (Art. 12). Zudem ist eine Rückführung in den Staat des Ersteintritts in jedem Fall unzulässig, wenn das dortige Asylsystem systemische Schwachstellen aufweist oder im Einzelfall eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung droht (Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO).
Letzteres ist auch der Fall, wenn die staatlich verantworteten Lebensbedingungen für Schutzsuchende einen Minimumstandard unterschreiten (u.a. Jawo-Entscheidung des EuGH). Die deutschen Verwaltungsgerichte nahmen dies in der Vergangenheit aufgrund von Obdachlosigkeit, mangelnder Gesundheitsversorgung sowie Zugang zum Arbeitsmarkt, vor allem in Bezug auf Griechenland und bei Vulnerabilität mittlerweile zunehmend auch in Bezug auf Italien an (Entscheidungsübersichen z.B. hier). Zu prüfen ist zudem die individuelle gesundheitliche Situation des Schutzsuchenden (§ 60 Abs. 7 AufenthG). All diese Prüfungspunkte sind keine juristischen Spitzfindigkeiten, sondern sichern elementare Grundrechtspositionen der Betroffenen: Hinter ihnen steht das Kindeswohl (Art. 6 Dublin-III-VO, Art. 24 GRCh), der Schutz der Familie (Art. 6 GG, Art. 9 GRCh), das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II GG, Art. 2 f. GRCh) oder menschenwürdige Lebensumstände (Art. 1 GG, Art. 1 GRCh).
Effektiver Rechtsschutz verlangt eine vollständige Prüfung und Zugang zu Rechtsbeistand
Aus einer korrekten Beachtung der Dublin-III-Verordnung ergeben sich also drei Schlüsse: Erstens kann ein Mitgliedstaat einen Antrag nicht ohne jegliche Prüfung zurückweisen. Vorschnell ist daher die Annahme, dass Deutschland bei Einreisen aus Europäischen Drittstaaten nicht zuständig sei. Zumindest von einer Prüfpflicht ist Deutschland keinesfalls entbunden. Im Gegenteil: Selbst dann, wenn es wahrscheinlich erscheint, dass ein Ersteintrittsstaat zuständig ist, kann das erwartete Ergebnis einer Prüfung nicht an deren Anfang gestellt werden und den gegenteiligen Beweis a priori verhindern. Dies würde den Zugang zum Recht im Einzelfall ad absurdum führen.
Zweitens muss die anzustellende Prüfung alle Rechtspositionen der Dublin-III-VO beinhalten und kann sich auch nicht auf EURODAC Treffer (zumeist Fingerabdrücke aus anderen Mitgliedstaaten) beschränken. Eine vorläufige (Grund)Rechtsverletzung – mit Möglichkeit einer Klage aus dem Ausland – ist bereits aufgrund der hohen Gewichtigkeit der in Rede stehenden Schutzgüter unzumutbar.
Drittens muss der europa- und grundrechtlich garantierte Rechtsschutz ermöglicht werden (Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 27 Dublin-III-VO). Bei Dublin-Bescheiden haben die Betroffenen zumindest eine Woche Zeit, Eilrechtsschutz zu beantragen – eine bereits sehr kurz bemessene Frist (§ 34a Abs. 2 AsylG, § 80 Abs. 5 VwGO). Während des gesamten Verfahrens muss uneingeschränkter Zugang zu Rechtsanwält*innen bestehen (Art. 22 Asylverfahrensrichtlinie). Nur so kann auch die Durchsetzung der entsprechenden materiellen Rechte gesichert werden.
Dublin First oder Vorrang der Verwaltungsabkommen
Die unmittelbare Zurückweisung Asylsuchender ist folglich nicht mit den Regelungen der Dublin-III-Verordnung und somit auch nicht mit dem Europarecht vereinbar. Diese Einschätzung schienen im Sommer 2018 auch Teile der Bundesregierung zu teilen, nicht zuletzt die Bundeskanzlerin (s. z.B. hier). Dennoch wurde das Vorhaben der Zurückweisungen nicht vollständig aufgegeben. Eine Lösung sollte der sogenannte Asylkompromiss 2018 bieten. Dieser sieht vor, dass bei Asylgesuchen im Rahmen einer Grenzkontrolle innerhalb von 48 Stunden eine Zuständigkeitsentscheidung gefällt und vollstreckt wird. Schutzsuchende sollen aufgrund von bilateralen Verwaltungsabkommen, in die für zuständig erkannten Mitgliedstaaten überstellt werden. Für den Fall, dass ein solches Abkommen (noch) nicht besteht, sollen sie aufgrund eines weiteren bilateralen Verwaltungsabkommens mit den Nachbarstaaten Deutschlands direkt zurückgewiesen werden. Entsprechende Abkommen bestehen gegenwärtig nur mit Griechenland, Portugal und Spanien. Österreich erteilte einem Abkommen bereits früh eine Absage (s. hier).
Auch die hier angedachten bilateralen Verfahren sind mit dem Europarecht jedoch unvereinbar. Da die EU im Asylrecht von ihrer geteilten Zuständigkeit (Art. 4 Abs. 2 lit. j, Art. 78 Abs. 1 AEUV), insbesondere der Regelung der Verfahrenszuständigkeiten (Art. 78, Abs. 2 lit e AEUV) Gebrauch gemacht hat, verfügen die Mitgliedstaaten hier über keine eigenständige Regelungskompetenz mehr. Es gilt also der Vorrang des Europarechts (Costa/ENEL), der durch bilaterale Abkommen nicht umgangen werden kann.
Die Abkommen fallen auch nicht unter die nach Art. 36 Dublin-III-Verordnung vorgesehenen Durchführungsvereinbarungen. Sie dienen ja gerade nicht der vollständigen Anwendung der Verordnung, sondern stehen dieser entgegen. Vor allem bleibt für den europarechtlich vorgeschriebenen Rechtsschutz bei einem Vollzug in 48 Stunden keine Zeit. Zudem haben Schutzsuchende einen Anspruch darauf, in jedem Fall in den zuständigen Staat überstellt zu werden. Dieses Recht gilt auch dann, wenn kein Verwaltungsabkommen besteht. Die geplante Zurückweisung in nicht-zuständige Nachbarstaaten kann also nach geltendem Europarecht nicht erfolgen. Letztlich hängt die Durchführbarkeit auch an der Ermöglichung von Einreisehaft und der Rechtmäßigkeit der Grenzkontrollen. Beides scheint nur schwerlich mit europa- und völkerrechtlichen Vorgaben vereinbar, was an anderer Stelle ausführlich analysiert wurde (zu Haft hier; zu Grenzkontrollen hier). Die angestrebten Abkommen können so keinen Vorrang vor europäischem Sekundärrecht beanspruchen.
Der Asylkompromiss: Zwei Lesarten einer Fiktion
Um die drohende Kollision von Verwaltungsabkommen und Europarecht zu umgehen, wurde die Ausweitung der Fiktion der Nichteinreise ins Spiel gebracht. Nach ihr gilt die Einreise – trotz tatsächlichen Überschreitens der Grenze – als nicht erfolgt, solange eine Grenzkontrolle noch nicht abgeschlossen ist und der Aufenthalt weiterhin kontrolliert werden kann (§ 13 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Bislang wurde diese Fiktion nur im Flughafentransit angewandt, wo Reisende sich zwar auf dem Territorium des Einreisestaates befinden, sie aber rechtlich bis zum Passieren der Grenzkontrollstelle so behandelt werden, als seien sie noch nicht in das Schengen Territorium eingereist.
Auf dieser Konstruktion basiert auch das umstrittene Flughafenasylverfahren (§ 18a AsylG), nach welchem u.a. die Rückführung erleichtert werden kann (Bender, 2014). Diese Praxis der Einreise aus Drittstaaten sollte nun auf die EU-Binnengrenzen ausgeweitet werden.
Hinsichtlich der Rechtsfolgen besteht jedoch ein Streit, der grundsätzlich zwei gegensätzliche Lesarten zulässt. Nach einer kritischen Auslegung wird durch die Anwendung der Fiktion bei einer Binnengrenzkontrolle fingiert, dass sich Einreisende nicht mehr auf Schengen Territorium befänden. Durch die Grenzkontrolle wird um Einreisende herum also eine Art Nicht-EU-Territorium fingiert. Das Nicht-Territorium wandert so lange mit ihnen mit, bis entweder die rechtliche Einreise erfolgt oder verweigert wird. So fände in diesem Fall auch das Europarecht keine Anwendung mehr und es könnte nach nationalem Recht und bilateralen Abkommen verfahren werden (Hruschka, 2019). Bei Grenzkontrollen könnte also entschieden werden, ob die Einreise genehmigt und ein Dublin-Verfahren eingeleitet, oder ob die Einreise vorerst verweigert und das durch den Asylkompromiss vorgesehene 48 Stunden Verfahren angewandt wird. Zurecht wurde ein solches Szenario als teilweise Entrechtung der Betroffenen scharf kritisiert (Hong, 2018; Kleist, 2018; Schmalz, 2018).
Eine solche Lesart würde die Anwendung von Europarecht zur Disposition von Grenzkontrolleur*innen stellen und Schutzsuchende würden ihrer europarechtlichen Ansprüche beraubt. Als Umgehung des Europarechts muss ein solcher Vorgang als offensichtlich rechtswidrig eingestuft werden.
Dem wird eine andere Auslegung entgegengesetzt. Die Bedenken der Kritiker seien weitgehend unbegründet. Politische Äußerungen, welche die Fiktion der Nichteinreise als juristische Extraterritorialität verstünden, seien lediglich „untaugliche Versuche, die Bindung an Recht und Gesetz abzustreifen.“ (Thym, 2018). Europarecht sei auch bei Anwendung der Fiktion einschlägig und die Auswirkungen würden sich lediglich auf Haftfragen reduzieren. Dennoch sei es sowohl möglich als auch nötig, die Verfahren zu beschleunigen. Dem stünde jedoch der derzeit praktizierte effektive Rechtsschutz gegen ablehnende Bescheide entgegen. Thym analysiert wörtlich: „Der Rechtsschutz wird daher zur Achillesferse eines jeden Versuchs einer Verfahrensbeschleunigung.“ (Thym, 2018).
Nach Thym ist es hingegen nicht zwingend, die Wochenfrist für Dublin-Eilanträge beizubehalten. Man könne diese z.B. dadurch verkürzen, anstatt einer Abschiebungsanordnung – gegen die stets einfachgesetzlicher Rechtsschutz gegeben ist – einen speziellen Dublin-Überstellungbescheid zu erlassen. Auch sei es für Dublin-Verfahren durchaus diskutabel, während des behördlichen Verfahrens Zugang zu Rechtsanwälten oder sonstiger Rechtsberatung zu verwehren (Thym, 2018, darin Fn. 29). Um sich der „Achillesferse Rechtsschutz“ zu entledigen, wird also ein dogmatisches Herantasten an ein Minimum an Rechtsstaat vorgeschlagen. Die Frage der Umgehung der europarechtlichen Zuständigkeitsordnung durch bilaterale Abkommen bleibt jedoch auch nach dieser Ansicht ungelöst.
Rechtsfreie Räume oder ein Minimum an Rechtsstaat
Die zentrale Frage wird jedoch nicht beantwortet: Wird unter der Fiktion nun Europarecht angewandt oder nicht? Die Fiktion der Nichteinreise, Dublin, Schengen, das Grundgesetz – wie jedes Recht sind dies letztlich theoretische Konstrukte, deren ontologische Existenz ausschließlich von der Überzeugung einer Gesellschaft von ihrer Geltung abhängt.
In anderen Worten: rechtliche Analysen können zu normativen Ergebnissen kommen (so z.B. ). Ob diese aber auch Rechtsrealität sind, hängt von der Anwendung in der Praxis ab. Ob also durch die Fiktion der Nichteinreise (europa)rechtsfreie Räume geschaffen werden oder wir uns an ein Minimum an Rechtsstaat herantasten, kann nur anhand der Rechtspraxis analysiert werden. Sichtbar wird das nur anhand der durchgeführten Verfahren: Haben die Betroffenen Zugang zu Rechtsbeistand? Können sie tatsächlich gerichtlich gegen ihre Bescheide vorgehen, oder werden sie abgeschoben, bevor sie Rechtsschutz erlangen können? Werden sie länger als zulässig inhaftiert? Wird die Zulässigkeit an Europarecht gemessen? An Völkerrecht? Oder ausschließlich an Bundesrecht? Wie steht es um sonstige (Grund)Rechtspositionen? Und gelangen Schutzsuchende schließlich wirklich in den für sie zuständigen Staat?
Derzeit können all diese Fragen anhand von elf Fällen bewertet werden. Elf Fälle, in denen wir feststellen können, ob unsere rechtsstaatlichen Garantien gerade über Bord geworfen oder lediglich angekratzt werden. In wie vielen dieser Fälle bestand die Gelegenheit für eine unabhängige Beobachtung der Verfahren?
Die öffentlich zugängliche Dokumentation ist bislang dünn. Es gibt keine offiziellen Stellungnahmen der Behörden, in denen sie sich dazu bekennen, ob sie nun Europarecht anwenden oder bilaterale Verwaltungsabkommen. Im Sinne des Rechtsstaats bleibt zu hoffen, dass eine reflektierte Öffentlichkeit sich zur Wehr setzen würde, wenn mitten in Europa rechtsfreie Räume entstünden.
Wenn rechtsfreie Räume jedoch außerhalb der Sichtweite entstehen (wie z.B. in ungarischen Transitzonen oder bzgl. Verfahrensrechten und Unterbringungsstandards in der griechischen Ägäis), scheint sich dieselbe Öffentlichkeit langsam daran zu gewöhnen. Ebenso verhält es sich mit einer geringen Fallzahl. Die einhellige Reaktion auf die Nachricht der elf Betroffenen im März war ein Augenrollen; warum man sich derart intensiv mit einem „so kleinen Problem“ beschäftigt hatte. Hierin liegt die Gefahr der geringen Fallzahl: Rechtsfreie Räume beginnen im Kleinen, im Fernen, im Abstrakten. Und wenn sie größer werden, wenn sie näher rücken, wenn ihre realen Auswirkungen offenbar werden, hat die Zivilgesellschaft sich an sie gewöhnt.
Ein erster Indikator: Entscheidung des VG München
Die erste gerichtliche Entscheidung zur neuen Zurückweisungspraxis erging am 9. Mai 2019 durch das VG München. Der Betroffene wurde aufgrund eines Verwaltungsabkommens mit Griechenland zurückgewiesen. Die Abschiebung nach Griechenland erfolgte lediglich vier Tage nach Zustellung des ablehnenden Bescheids – unter Missachtung der Wochenfrist. Eilrechtsschutz musste er so nach der Rückführung aus dem Ausland betreiben. Das VG München verwehrte diesen mit der Begründung, ein Erfolg in der Hauptsache sei nicht zu erwarten. Unbeachtet lässt es hingegen, dass die gesetzlich angeordnete aufschiebende Wirkung des Eilrechtsschutzes umgangen wurde (Lübbe, 2019). Was, wenn der Eilrechtsschutz begründet gewesen wäre? Wenn ein Antragsteller kein Verfahren aus dem Ausland führen kann? Wenn die zu schützenden Rechtsgüter bereits durch die Abschiebung verwirkt sind? Für genau diese Fälle ist die aufschiebende Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO gedacht. Dieser grundlegende Baustein des Rechtsstaats darf nicht im Sinne einer Verfahrensbeschleunigung ausgehebelt werden.
Eine weitere Erkenntnis geht aus der Entscheidung hervor: zumindest die Bundespolizei ist der Ansicht, dass die Dublin-III-Verordnung bei der Fiktion der Nichteinreise nicht anwendbar ist (VG München, Beschluss vom 9. Mai 2019 – M 5 E 19.50027 -, asyl.net Rn. 22). Auch wenn das VG München dem hier nicht folgte, so bestätigt dies dennoch den Versuch, (europa)rechtsfreie Räume an der Deutschen Grenze zu schaffen. Zudem sah auch das VG München von einer Rüge der europarechtswidrigen Rechtsschutzverkürzung ab.
Fazit: Rechtsschutz erfordert Zeit – der Rechtsstaat darf nicht auf sein Minimum reduziert werden
Direkte Zurückweisungen sind aus unterschiedlichen Gründen rechtswidrig, insbesondere wegen einer Umgehung der Dublin-III-VO. Um dieser Kollision zu zuvorzukommen, wurde durch den Asylkompromiss 2018 die Fiktion der Nichteinreise auf die Binnengrenzen ausgeweitet. Eine kritische Beobachtung der Praxis muss zeigen, ob hiermit für einen Teil der Einreisenden unmittelbar Europarecht ausgesetzt wird, oder ob es sich um ein Herantasten an ein Minimum an Rechtsstaat handelt.
Während ersteres offensichtlich rechtswidrig wäre, ist letzteres kaum weniger bedenklich. Es birgt die Gefahr einer graduellen Gewöhnung an den jeweiligen Status Quo und einer immer stärkeren Entwicklung hin zu rechtsfreien Räumen, wie dies bereits in Ungarn und Griechenland zu beobachten ist. Dass in der Literatur die Möglichkeit einer Verweigerung von Rechtsbeistand diskutiert wird, dass Dublin-Wochenfristen weiter verkürzt werden sollen, und dass das VG München offensichtlich die aufschiebende Wirkung des Eilrechtsschutzes für unbeachtlich hält, sind besorgniserregende Indikatoren. Effektiver Rechtsschutz braucht Zeit. Er darf nicht durch Verfahrensbeschleunigung ausgehebelt werden. Denn wenn der Rechtsstaat schrittweise auf sein Minimum reduziert wird, ist die Grenze zu dem, was jenseits liegt, fließend.
Literatur
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Zitiervorschlag:
Eibelshäuser, Andreas: Achillesferse Rechtsschutz, RLC Journal (2019) 12.
<https://rlc-journal.org/2019/achillesferse-rechtsschutz/>
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