Für LSBTI*Geflüchtete ist die Flucht in Anbetracht der signifikanten Risiken und Belastungen in den Sammelunterkünften erst nach Bezug in private Wohnungen vorbei. Sie sind in den Sammelunterkünften Beleidigungen und Bedrohungen bis hin zu körperlichen Angriffen, sexualisierter Gewalt und Mordversuchen ausgesetzt. Geflohen vor Verfolgung und Diskriminierung können sie sich unter Umständen plötzlich im engsten Raum mit teilweise homophob denkenden Menschen befinden. Um Konflikte zu vermeiden üben viele LSBTI*-Geflüchtete „soziale Distanzierung“ aus, die zu totaler Isolation führen kann. Sie haben in der Regel keinen Kontakt zu der Familie, daher erfolgt eine sehr einsame Verarbeitung über die Erfahrungen während der Flucht. Viele berichten aufgrund der belastenden Situation davon, in der Zeit in den Sammelunterkünften an Selbstmord gedacht oder sogar einen diesbezüglichen Versuch begangen zu haben.
Durch die Corona-Pandemie hat sich die Situation vieler LSBTI*-Geflüchtete sogar noch verschärft. Während vorher wenigstens eine Verlagerung des Alltags außerhalb der Unterkünfte möglich war, sind viele nun gezwungen an dem Ort zu bleiben, wo sie einer ständigen Bedrohung ausgesetzt sein können. Hinzu kommt auch, dass die Sammelunterkünfte oft von Corona-Fällen betroffen sind, sodass häufig mit dem Ende einer Quarantäne die nächste bereits beginnt. Dies führt bei den meisten zu einer hohen psychischen Belastung.
Fraglich ist wie die besondere Schutzbedürftigkeit dieser Personengruppe bei der Unterbringung berücksichtigt wird.
Schutz durch die EU-Aufnahmerichtlinie?
Die EU-Aufnahmerichtlinie (AufnRL) aus dem Jahr 2013 legt Mindestnormen für die Aufnahme schutzsuchender Personen in den EU-Mitgliedstaaten fest und definiert Personen mit besonderen Schutzbedarf.
Gem. Art.21 AufnRL ist ein Antragsteller mit besonderen Bedürfnissen bei der Aufnahme eine schutzbedürftige Person. Art.21 listet beispielhaft verschieden Personengruppen auf wobei auffällt, dass LSBTI*-Personen in dieser Auflistung fehlen. Es handelt sich aber bei der Auflistung nicht um eine abschließende Aufzählung, sodass auch weitere Gruppen im Sinne der AufnRL als schutzbedürftig gelten können. In Deutschland wurde zur Umsetzung der AufnRL der neue §44 Abs.2a Asylgesetz (AsylG) eingeführt, der vorsieht, dass Länder bei der Unterbringung von Geflüchteten den Schutz von „Frauen und schutzbedürftigen Personen“ gewährleisten müssen. Auch hier werden LSBTI*-Geflüchtete nicht ausdrücklich genannt. Allerdings werden lesbische, schwule, bi-, trans- oder intersexuelle Personen in den Gesetzesmaterialen aufgelistet (s. BT-Drs 19/10706 S. 14 f.). Soweit ist davon auszugehen, dass auch LSBTI*-Geflüchtete von §44 Abs.2a inbegriffen sind (vgl. auch Bergmann/Dienelt/Bergmann, 13. Aufl. 2020, AsylG § 44 Rn. 4).
Aus Art. 22 Abs. 1 AufnRL ergibt sich, dass die Mitgliedstaaten unmittelbar nach Stellen des Asylgesuchs mit allen Asylsuchenden ein Clearingverfahren zur Identifikation von besonders schutzbedürftigen Geflüchteten durchführen müssen. Es soll Geflüchteten auch zu einem späteren Zeitpunkt im Asylverfahren möglich sein, ihre Schutzbedürftigkeit geltend zu machen. Die Mitgliedstaaten werden sodann verpflichtet, dass die Situation und Bedürfnisse dieser Menschen in geeigneter Weise verfolgt wird.
Der Schutz der AufnRL sieht also vor, dass die Mitgliedstaaten aktiv die besondere Schutzbedürftigkeit von Geflüchteten ermittelt umso dann geeignete Maßnahmen zu treffen, die ihrer Situation gerecht werden.
Die Umsetzung in Deutschland gleicht einen Flickenteppich.
Da die Unterbringung Ländersache ist, waren die Bundesländer gem. der AufnRL dazu verpflichtet, entsprechende Schutzmaßnahmen in jeweiligen Länderrecht bis 2015 zu verankern.
Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat zusammen mit UNICEF (Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen), den Wohlfahrtsverbänden und weiteren Fachverbänden Richtlinien zu Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen erarbeitet und im Oktober 2018 veröffentlicht, umso eine einheitliche Umsetzung der Richtlinie zu bezwecken. Allerdings wurden auch hier zunächst LSBTI*-Geflüchtete nicht ausdrücklich genannt. Erst 2018 wurde mit der Zusammenarbeit der Schwulenberatung Berlin e.V sowie des Lesben und Schwulenverbandes in Deutschland (LSVD) ein Annex hinzugefügt, welches auf die besonderen Belange von LSBTI*-Geflüchteten eingeht. Zwar ist der Annex, der die besonderen Belange von LSBTI*-Geflüchtete auflistet, erst später hinzugefügt worden. Allerdings ist es bemerkenswert, dass die Belange gesondert von den anderen Mindeststandards herausgearbeitet wurden, um eben der besonderen Situation von LSBTI*-Geflüchteten gerecht zu werden.
Der Annex führt auf, dass alle Unterkünfte ihr Personal zu dem Thema sensibilisieren und weiterbilden müssen. Die Fachkräfte in Unterkünften müssten sich mit den Begrifflichkeiten und den besonderen Konflikten von LSBTI*-Geflüchteten auseinandersetzen, damit sie die erforderliche Unterstützung bieten können. Schließlich müssten Unterkünfte so eingerichtet sein, dass Schutzräume für LSBTI*-Personen bestünden, insbesondere solchen Personen gegebenenfalls ein Einzelzimmer angeboten werden könne. Bemerkenswert ist, dass der Annex auf ein wichtiges Problem aufmerksam macht nämlich: Die Identifizierung von LSBTI*-Geflüchteten. So wird im Annex darauf hingewiesen, dass Beratungsstellen in Unterkünften geeignete Maßnahmen durchführen müssen um LSBTI*-Personen zu erreichen. Hier werden auch praktische Beispiele genannt, wie das Aufstellen von Broschüren mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass es für LSBTI*-Geflüchtete Beschwerde und Beratungsstellen gibt.
Die Mindeststandards und der Schutz von Schutzbedürftigen Menschen wird in den Ländern durch Gewaltschutzkonzepte umgesetzt. Allerdings besitzen nur 9 von 16 Bundesländer überhaupt solche Gewaltschutzkonzepte (GSK).
Dazu gehören Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Schleswig-Holstein.
Zwar wird in allen GSK der besondere Schutzbedarf von LSBTI*-Personen erwähnt, allerdings in sehr unterschiedlicher Ausprägung. Es fällt auf, dass manche GSK Teile der LSBTI*-Community ausschließen. Beispielsweise verfügt Brandenburg ein GSK mit Fokus auf lesbische, bisexuelle, Trans und- intergeschlechtliche Frauen mit der Folge, dass schwule, bisexuelle, Trans- und intergeschlechtliche Männer keine Erwähnung finden. In Bremens GSK hingegen findet sich kein Verweis auf intergeschlechtliche Geflüchtete.
Problematisch erscheint insgesamt, dass mit Ausnahme von Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen die GSK – anders als die Mindeststandards des Bundesministeriums – keinen gesonderten Abschnitt haben, der sich mit den Hintergründen des besonderen Schutzbedarfs von LSBTI*-Personen auseinandersetzt. Vielmehr werden sie mit den anderen Gruppen gemeinsam genannt. Der LSVD hatte aber bereits bei der Mitwirkung der Erstellung des Annexes betont, dass die Belange von LSBTI*-Geflüchteten besonders zu behandeln sind. Vor allem hinsichtlich der Identifikation müssen sich die Länder mit dem Problem auseinandersetzten, dass der Schutzbedarf nicht evident zum Vorschein tritt.
Zudem werden LSBTI*-Geflüchtete zu Opfern spezifischer Gewaltformen, die auf ihre sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität abzielen. Beispielsweise wird Ihnen mit einem Zwangsouting gedroht. Beachtlich ist hierbei das zwischen Lesben, Schwulen, transgeschlechtlichen Geflüchteten und intergeschlechtlichen Menschen auch unterschiedliche Formen von Gewalt erscheinen. Beispielsweise wird lesbischen Frauen mit „korrigierenden Vergewaltigungen“ gedroht, während die Gewalt an schwulen Personen oft nicht sichtbar ist und mitunter auf ihre „Unsichtbarmachung“ zielt (vgl. Träber/Dörr, Freiburger Zeitschrift für GeschlechterStudien, 26 (2020), S. 35-54)
Zu berücksichtigen ist hierbei auch, dass sich der tatsächliche Umgang mit LSBTI*- Geflüchteten nur bedingt aus den GSK ableiten lässt. Queerrefugees berichtet, dass in der Praxis Maßnahmen einerseits nicht systematisch umgesetzt werden, andererseits in bestimmten Kommunen durch die Bemühungen von Nichtregierungsorganisationen und durch geschulte Einrichtungen und Träger die Maßnahmen sogar über die Anforderungen des jeweils gültigen GSK hinausgehen.
Problematisch erscheint vor allem die Situation in den sieben Bundesländern ohne GSK. Denn es ist noch nicht ersichtlich, inwieweit das Verwaltungshandeln die besondere Schutzbedürftigkeit von LSBTI*-Geflüchteten berücksichtigt.
Der besondere Schutzbedarf bleibt bei der Erstzuweisung unberücksichtigt.
In Anbetracht der unterschiedlichen GSK der Länder und deren Umsetzung, könnte ein vollumfänglicher Schutz nur durch eine Identifizierung schon bei der Erstverteilung der Asylsuchenden in den Erstaufnahmeeinrichtungen erfolgen. Sodann könnten die Betroffenen einem Bundesland zugewiesen werden, welches die Belange von LSBTI*-Geflüchteten berücksichtigt. Es könnte sodann eine Zuweisung in einer Aufnahmeeinrichtung erfolgen, die die entsprechenden Mindeststandards einhalten kann.
Allerdings gibt es keine einheitlichen Verwaltungsvorschriften, die deutschlandweit eine Erhebung des Schutzbedarfs LSBTI*-Geflüchteter bei der Registrierung ermöglichen würden, sodass bei der Erstzuweisung die Schutzbelange von LSBTI*-Geflüchteten nicht berücksichtigt werden können. Problematisch erscheinen hierbei vor allem zwei Punkte: Zum einen handelt es sich um Informationen, die nur durch die Mitwirkung der Betroffenen zu erheben sind, zum anderen handelt es sich bei der sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität um höchst sensible Daten. Hier tritt der Datenschutz häufig als Hindernis hervor. Fraglich ist auch, inwieweit ein sofortiges Outing seitens der Betroffenen zumutbar und überhaupt zu erwarten ist. Für viele LSBTI*-Geflüchtete ist es, aufgrund ihrer negativen Vorerfahrungen, nicht vorstellbar, dass ein Staat ihnen wegen ihrer Identität Schutz gewähren könnte. Viele Geflüchtete berichten, dass sie vor allem beim Asylgesuch auch nicht verstehen, welche Bedeutung ihre Aussagen haben – viele haben Angst zu viele Informationen preis zu geben. Der LSVD weist darauf hin, dass LSBTI*-Geflüchtete in der kurzen Zeit zwischen Ankunft, Asylgesuch und Anhörung es oft nicht schaffen, sich über ihre Rechte in Deutschland zu informieren und Vertrauen in staatliche Institutionen zu finden. Dennoch spielen diese Informationen für die Ergreifung geeigneter Maßnahmen zum Gewaltschutz eine zentrale Rolle. Man könnte damit ansetzen, dass bereits an den Außenstellen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Beratungseinrichtungen entsprechende Schweigepflichtentbindungen im Vorfeld mit der geflüchteten Person vorbereiten. Dies setzt voraus, dass in den Außenstellen des BAMF qualifiziertes Personal vorhanden ist. Hier ist bereits zu bemängeln, dass Schulungsmaßnahmen des Personals des BAMF keine Beteiligung von Beratungsstellen vorsieht. Eine solidarische, sichtbare Positionierung der Außenstellen des Bundesamtes sowie eine diskrete Informationsvermittlung könnten auch dazu beitragen, dass LSBTI*-Geflüchtete früh ein Vertrauen zu den Institutionen und Behörden aufbauen können.
Wünschenswert wäre weiterhin, dass die restlichen 6 Bundesländer Konzepte erlassen und die spezifischen Bedarfe von LSBTI*-Personen in den Blick nehmen.