Kein gesichertes Existenzminimum – nach wie vor eine maßgebliche Fluchtursache und Motiv vieler Flüchtender. Erreichen Asylbewerber:innen Deutschland, erhalten sie staatliche Leistungen, um den Lebensunterhalt zu sichern. Wer aber nur wegen des Leistungsbezuges kommt, dem werden die Leistungen gekürzt. Mit dieser Praxis hat sich nun das LSG Niedersachsen-Bremen kritisch auseinandergesetzt.
Mit 24 Jahren verließ eine junge Nigerianerin ihre Heimat. Ihr Ziel: Europa. 2009 gelangte sie nach Italien, wo kurz nach der Einreise ihre Tochter geboren wurde. Als alleinerziehende Mutter versuchte sie, in Italien Fuß zu fassen. Sie erhielt die Anerkennung Internationalen Schutzes durch Italien. Die junge Frau fand aber keine Arbeit und wusste schlicht nicht, „wovon sie und ihr Kind in Italien leben sollten“ (LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 25.3.2021, Az. L b AY 33/16). Sie entschloss sich deshalb Anfang März, nach Deutschland einzureisen.
In Deutschland stellte die Nigerianerin einen Asylantrag für sich und ihre kleine Tochter. Sie gab an, Staatsangehörige der Elfenbeinküste zu sein. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte die Anträge jedoch ab, nachdem eine Prüfung über EURODAC ergab, dass nach der Dublin-III-Verordnung Italien zuständig sei. Es wurde die Abschiebung nach Italien angeordnet.
Dieser Abschiebung konnten sich Mutter und Kind jedoch entziehen, eine deutsche Kirchengemeinde gewährte ihnen Kirchenasyl. Außerdem klagten sie erfolgreich gegen die Ablehnung des Asylantrages, das BAMF wurde zur erneuten Prüfung verpflichtet. Die beiden beendeten daraufhin das Kirchenasyl, wurden in eine Obdachlosenunterkunft eingewiesen und erhielten Duldungsstatus. Außerdem erhielt die junge Frau von der Stadt Göttingen für sich und ihre Tochter Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG).
Wegen des bereits in Italien anerkannten Flüchtlingsschutzes wurden die Asylanträge jedoch erneut abgelehnt. Allerdings stellte das Gericht auch fest, dass eine Abschiebung nach Italien oder Nigeria nicht möglich sei. Nach Nigeria komme eine Abschiebung wegen des Flüchtlingsstatus nicht in Betracht. Eine Abschiebung nach Italien komme nicht in Frage, da Mutter und Tochter „aufgrund der derzeitigen Rückkehrbedingungen für Schutzberechtigte eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention“ drohe.
Ein Fall von „grundsätzlicher Bedeutung“
Bis hier ist der Fall dieser jungen Nigerianerin ohne Frage eine traurige Geschichte, allerdings leider kein Einzelfall. Trotzdem wurde diese Geschichte ein Fall, der die Rechtsprechung weiter beschäftigte – und zu einer wichtigen Präzisierung der bisherigen Judikatur führte. Wir erinnern uns daran, dass Mutter und Tochter Leistungen nach dem AsylbLG erhielten. Die Stadt Göttingen kürzte die Leistungen schnell wieder. Grund: Die junge Frau und ihr Kind hätten aufenthaltsbeendende Maßnahmen verhindert und seien nur „zum Zwecke des Leistungsbezugs“ nach Deutschland eingereist.
Die Nigerianerin wehrte sich gegen diesen Vorwurf. In einer persönlichen Vorsprache erklärte sie, dass sie in Italien einfach nicht mehr weitergewusst hätte. Sie hätte nicht mehr gewusst, wovon sie und ihre Tochter in Italien leben sollten. Sie sei nach Deutschland gekommen, da sie „auf Hilfe gehofft“ habe. Darüber, wie sie ihren Lebensunterhalt und den des Kindes in Deutschland bestreiten würde, habe sie sich keine Gedanken gemacht. Außerdem sei das Kirchenasyl kein „vorwerfbares Untertauchen“.
In einer späteren Anhörung vor dem Sozialgericht Hildesheim gab sie an, dass sie in Italien keinen Wohnsitz gehabt hätte. Sie habe „betteln und sich prostituieren müssen“. Doch auch das Sozialgericht sah nur ein ausschlaggebendes Einreisemotiv der jungen Frau: Sie sei lediglich aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland gekommen. Politische und familiäre Gründe sah das Sozialgericht nicht.
Die junge Frau gab jedoch nicht auf und legte Berufung ein. Es sei ihr nicht um irgendwelche Leistungen gegangen, als sie nach Deutschland einreiste. Sie habe in Italien schlicht „Angst um Leib und Leben“ gehabt. Sowohl um das eigene als auch um das ihrer Tochter.
Leistungsbezug als Einreisemotiv
Das Landessozialgericht Niedersachsen Bremen (LSG) ließ die Berufung zu und erkannte in der Geschichte der jungen Nigerianerin einen Fall von „grundsätzlicher Bedeutung“ (LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 25.3.2021, Az. L b AY 33/16). Um das Ergebnis vorweg zu nehmen: Ihr Kampfgeist zahlte sich aus, das LSG gab der jungen Frau Recht und entschied, dass ihr Leistungsbezug nicht nach § 1a AsylbLG eingeschränkt werden dürfe. Das LSG ließ zwar die Frage, ob eine solche Leistungseinschränkung überhaupt mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar sei, offen. Es beschäftigte sich aber ausführlich mit der Frage des Leistungsbezuges als Einreisemotiv.
Das Gericht legte zunächst dar, dass der Leistungsbezug bei einer sogenannten „Um-zu-Einreise“ nach § 1a AsylbLG das „prägende Motiv zum Zeitpunkt der Einreise“ sein müsse. Es reiche nicht aus, wenn der Leistungsbezug nur billigend in Kauf genommen werde und es dem oder der Einreisenden eigentlich um andere Dinge ginge. Anhaltspunkt für eine solche Einreise, die eigentlich nur zum Zwecke des Leistungsbezuges erfolge, könne ein als offensichtlich unbegründet abgelehnter Asylantrag sein. Dabei sei aber zu beachten, dass der § 1a AsylbLG restriktiv auszulegen sei. Es müssten immer auch weitere Indizien hinzutreten, „die einen sicheren Schluss auf die prägende Einreisemotivation zulassen, wozu auch die Schaffung einer Lebensgrundlage durch Erwerbstätigkeit gehört“. Dabei seien stets auch die Umstände im jeweiligen Herkunftsland zu berücksichtigen.
Soweit die aktuelle Rechtsprechung zum Leistungsbezug als Einreisemotiv im Sinne des § 1a AsylbLG. Das LSG nahm nun den Fall der jungen Nigerianerin zum Anlass, diese zu präzisieren: Wolle jemand nach Deutschland einreisen, um eine unabwendbare materielle Notlage zu beenden, sei die Sicherung des Lebensunterhalts durch staatliche Leistung als Motiv für die Einreise in Deutschland zwar gegebenenfalls mitgedacht. Sie sei aber nicht als so prägend anzusehen, dass eine Kürzung der Leistungen nach § 1a AsylbLG zulässig sei. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn Asylbewerber:innen vor der Einreise nach Deutschland Opfer einer „extremen materiellen Notlage“ waren, die „der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung“ gleichkomme.
Das LSG findet hier eindeutige Worte: „Soweit überhaupt der Zweck, eine Zuwanderung nach Deutschland aus einem Drittstaat oder eine Sekundärmigration innerhalb der Europäischen Union zu verhindern, es rechtfertigen kann, Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, tritt in diesen Fällen das migrationspolitische Interesse des deutschen Staates gegenüber seiner Gewährleistungspflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG zurück.“ Drohen Asylbewerber:innen im Herkunftsland Menschenrechtsverletzungen – auch aufgrund „systematischer Mängel des Europäischen Asylsystems“ – und könne dieser Grund sogar einer Abschiebung entgegenstehen, sei eine Leistungsbeschränkung aufgrund des Einreisemotivs nicht gerechtfertigt. Asylbewerber:innen dürfe nicht vorgehalten werden, dass sie eingereist seien, um nicht „auf der Straße zu leben“.
So sah das LSG auch den Fall der jungen Nigerianerin und ihrer Tochter. Die Ermittlungen hätten insoweit erwiesen, dass die Mutter trotz Bemühungen in Italien keine staatliche Unterstützung erhalten habe, die ihre Existenz gesichert habe. Sie hatte keinen Wohnsitz und musste betteln und sich prostituieren, um für ihre Tochter und sich selbst aufzukommen. Sie habe in Italien zwar den Flüchtlingsstatus erhalten, das italienische System sehe aber vor, dass Personen mit Schutzstatus „sich um sich selbst kümmern können und müssen“.
Migrationspolitische Interessen vs. Menschenwürdegarantie
Das LSG erkannte in dem Fall wie bereits dargestellt eine grundsätzliche Bedeutung und hat daher die Revision zum Bundessozialgericht zugelassen. Es bleibt also abzuwarten, ob sich mit dem Fall der jungen Nigerianerin auch auf der letzten Stufe des deutschen sozialgerichtlichen Instanzenzuges befasst wird.
Die Entscheidung des LSG erscheint aber bereits jetzt als wichtige Reaktion auf eine maßgebliche Fluchtursache weltweit: Armut und Perspektivlosigkeit. Ob durch den Klimawandel oder einen Krieg verursacht, immer mehr Menschen finden sich in genau dieser Situation wieder. Fast eine Milliarde Menschen leben in extremer Armut, millionenfach leiden sie Hunger, haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung – sie leben in Zuständen, die mit dem Bild eines menschenwürdigen Existenzminimums unvereinbar sind.
Das LSG sieht hier die Notwendigkeit, migrationspolitische Interessen von Staaten wie Deutschland zurückzustellen. Es zählt zu allererst die Garantie der Menschenwürde. Deutschland trifft hier eine Gewährleistungspflicht und fliehen Menschen aus menschenunwürdigen Zuständen, vor einer ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen Behandlung, die auch ein Abschiebungshindernis darstellt, kann ihnen nicht die Gewährung von Leistungen verweigert oder eingeschränkt werden. Die erwiesene Flucht vor Menschenrechtsverletzungen darf nicht umgewertet werden in eine Einreise lediglich zum Zwecke des Leistungsbezuges.